Washington Memo Der Sarah-Faktor

  • von Katja Gloger
Eine konservative Welle droht Obama wegzuschwemmen, und diese Welle heißt Sarah Palin. Denn sie ist das All-American-Girl, eine Heldin des konservativen Amerikas, fernab vom Zentrum der Macht. Sie spricht die Sprache der Provinz, die Herzen vieler Frauen fallen ihr zu. Obama muss nun kämpfen - doch seine Geschichte scheint bereits veraltet.

Als ob man, wie von Zauberhand, die Schleusen geöffnet hätte. Überall im Land das gleiche Bild: Tausende, Abertausende stehen Schlange, frühmorgens schon, warten geduldig, freudig. Viele haben Plakate gemalt. "Sarah, wir lieben Dich". "Sarah, Du bist ein Rock Star". Ob in Montana oder Wisconsin, ob in Colorado oder Michigan oder Virginia. Alle wollen sie sehen. Alle wollen SIE sehen. Sarah. Als ob SIE die Präsidentschaftskandidatin ist und nicht John McCain.

Was da gerade im amerikanischen Herzland passiert, das überrascht selbst die erfahrensten Wahlbeobachter. Klar, man wusste vom "bounce", von den Popularitätssprüngen der Kandidaten nach ihrem Parteitag. Obama bekam ihn, auch McCain. Aber das hier ist mehr. Gerade erlebt das Land die Geburt eines politischen Stars. Noch vor zwei Wochen kannte sie so gut wie niemand - und jetzt ist diese Sarah Palin schon so populär wie Barack Obama oder John McCain. Ein Phänomen? Ein PR-Produkt? Von wegen. Diese Frau ist gerade dabei, die Arithmetik dieses Wahlkampfes zu verändern. Barack Obama hat ein Problem. Und das heißt Sarah Palin.

Noch vor zwei Wochen war sie eine Gouverneurin im fernen Alaska, 670.000 Einwohner groß. Hatte dort eine erstaunliche Politkarriere hingelegt, war von der Bürgermeisterin einer Kleinstadt zur Landeschefin aufgestiegen. Ihr untrügliches Gespür für die Wünsche des Wahlvolks hatte sie nach oben gebracht, und dabei hatte sie sich auch als furchtlose Kämpferin gegen Korruption und Kungeleien in der eigenen Partei einen Namen gemacht.

Und sie hatte sich ein unschlagbares Image gezimmert: Sarah Palin war die ebenso charmante wie durchsetzungsfähige Rebellin mit fünf Kindern, die auch im eisigen arktischen Winter jeden Tag 15 Kilometer joggen geht. Die als Abtreibungsgegnerin zu ihren Prinzipien steht und ein behindertes Kind zur Welt bringt. Gesegnet mit einem coolen Gatten, den sie immer noch verliebt "meinen Kerl" nennt - und der mit vier Siegen in einem 3200 Kilometer langen und lebensgefährlichen Schneemobilrennen den echten Respekt der Alaskaner genießt. Eine konservative, aber dennoch moderne Frau in Designerstiefeln, die ihre Kinder mit ins Büro nimmt, das Baby stillt, während sie telefoniert und trotzdem noch Zeit findet, sich die Fingernägel maniküren zu lassen.

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...im aktuellen stern. US-Korrespondenten des stern recherchierten in Washington und Alaska, um der neuen Hoffnungsträgerin der Republikaner auf die Spur zu kommen.

Eine perfekte Inszenierung

Nie glänzte Sarah Palin mit Detailkenntnis oder Visionen, wozu auch. Wenn sie komplizierte Fragen zum Gesundheitssystem beantworten sollte, dann erzählte sie lieber warmherzig die Geschichte von einem Unfall ihres Mannes bei einem Schneemobilrennen. Und wenn es um die Bildungsreform ging, dann plauderte sie lieber unbefangen über ihre Kinder und über die Erfahrungen ihres Vaters, der früher Grundschullehrer war.

Ihr Erfolgsrezept, ihr Programm lautete stets: Sarah Palin. Man musste sie einfach mögen. Und irgendwie kaufte man immer ein Ticket auf die Zukunft, wenn man sie wählte.

Und jetzt steht ihr die geballte Propaganda - und Finanzkraft eines 200-Millionen-Dollar-Wahlkampfes zur Verfügung - denn 200 Millionen Dollar kann John McCain in den kommenden sieben Wochen ausgeben. Jetzt trainieren Profis aus dem einstigen Beraterteam von George Bush mit ihr. Jetzt fliegt sie im Jet kreuz und quer durch die USA - und sie wird jeden Tag besser. Das ganze Land redet nur noch über "Sarah". Vor einigen Monaten noch hat das ganze Land über Obama geredet. Aber das scheint irgendwie Ewigkeiten her. Sie ist das neue, frische Gesicht in diesem Wahlkampf.

Virginia im Palin-Rausch

Fairfax, Virginia, am Mittwochmorgen. Ein Vorort von Washington, 30 Minuten dauert die Fahrt vom Weißen Haus bis nach Fairfax. Hier lebt Amerikas typische Mittelklasse, man ist nicht reich, aber auch nicht arm, kann sich ein Häuschen leisten. Die Schulen sind gut, man profitiert von der enormen Wirtschaftskraft im Großraum Washington. Der Kreis Fairfax ist so etwas wie Ground Zero in diesem Wahlkampf.

Denn Virginia gehört zu den wenigen Staaten, um die beide Kandidaten mit viel Geld und viel Präsenz buhlen. Zwar wählte man in Virginia stets den republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Aber in den vergangenen Jahren sind viele junge Familien hinzugezogen, sie haben die Demographie des Bundesstaates verändert. So auch Fairfax, der Kreis wählt jetzt eher demokratisch. Hier erhofft sich Obama einen Sieg. Er hat Dutzende Wahlbüros eröffnet, investiert Millionen in Fernsehwerbung. Und bislang standen seine Chancen gar nicht so schlecht. Bislang.

Doch dann kam Sarah. Und seitdem ist die republikanische Basis im Kollektivrausch.

Ursprünglich sollte die Wahlveranstaltung mit John McCain und Sarah Palin in einer Schule stattfinden. Dann protestierten Eltern, vor allem aber war das Schulgelände viel zu klein für den Andrang. Man musste auf einen naheliegenden Park ausweichen. An diesem Mittwochmorgen kamen 20.000 Menschen. 20.000 Wahlhelfer für John McCain - und Sarah Palin.

"Clinton ist kalt, Sarah warm"

Wie "langweilig" dieser Kandidat doch war, erzählt Bonnie Crim, 70, dynamisch, energisch, vielfache Großmutter, gebürtig aus Texas, dort arbeitete sie einst als Inneneinrichterin. "McCain schleppte sich doch nur so dahin. Doch dann sah ich Sarahs Rede im Fernsehen. Ich habe geschrien und gejubelt und hüpfte vor Freude. Warum? Sarah Palin verkörpert alle Frauen. Sie hat die gleichen Probleme wie alle Frauen, denken Sie doch nur an ihre schwangere Tochter. Sie jagt und fischt und ist trotzdem noch feminin. Sie ist aus Alaska, da muss man zupackend sein. Sie ist eine echte amerikanische Frau." Bonnie hat sich einen Anstecker an ihr Jeanshemd geheftet: "Palin. Hier wird gerade Geschichte gemacht." Und was ist mit Hillary Clinton? "Ach", lächelt Bonnie da, "kommen Sie mir nicht mit Hillary Clinton. Sie ist kalt, Sarah ist warm, sie ist erfrischend. Sarah führt eine glückliche Ehe, das kann man von Hillary ja wohl nicht sagen. Sarah setzt ihr Land an die erste Stelle, Hillary ist eine Politikerin aus Washington."

Und die mangelnde Erfahrung einer Frau, die bald vielleicht nur einen Herzschlag von der Präsidentschaft entfernt ist? "Was hat denn Obama vorzuweisen", ruft Bonnie da. "Seine Jahre als Sozialarbeiter etwa? Palin ist immerhin Gouverneurin von Alaska. Sie war der CEO eines ganzen Bundesstaates, während Obama im Senat hockte."

Aber die vergangenen acht Jahre, George W. Bush? "Schrecklich", sagt sie, "ich bin so enttäuscht von unserem Präsidenten. Aber John McCain ist anders, Palin ist anders. Sie sind die Querdenker, die Außenseiter. Sie werden Washington verändern. Sie sind der wahre Wandel."

Eine Seelenverwandte für viele Frauen

Auch Bonnie Wilson aus Annapolis ist gekommen, 46 Jahre alt, fünf Kinder, berufstätig, sie leitet die Lohnbuchhaltung einer Metallfabrik mit 250 Mitarbeitern. Bestimmt sagt sie: "Ich kenne die Benzinpreise. Ich weiß, wie teuer das Leben geworden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Obama die Steuern senken wird. Hillary Clinton und Barack Obama haben uns eigentlich immer nur das Gefühl gegeben, dass wir irgendwie dumm sind. Sie schauen auf uns herab. Aber wir sind nicht dumm."

Es gibt Millionen Frauen wie Bonnie Crim und Bonnie Wilson, und sie gehören zum Fundament, auf dem Amerika steht. Sie arbeiten, sie erziehen die Kinder, sie haben Angst vor der Wirtschaftskrise, sie wollen Veränderung. Und dazu gehören offenbar nicht nur die gläubigen Konservativen, die Evangelikalen und die "hockey moms", all die Mütter, die ihre Kinder nach der Schule zum Sport kutschieren. Im Moment zumindest scheint es, als ob auch Wechselwählerinnen in Sarah Palin eine Art Seelenverwandte finden. Und vielleicht ist Sarah Palin für sie auch ein wunderbarer Vorwand, doch keinen Schwarzen zu wählen.

Gerade wurden die ersten Umfragen nach dem Parteitag der Republikaner veröffentlicht. Die Ergebnisse müssten die Demokraten in Alarmstimmung versetzen: Demnach hat McCain 12 Prozent der weißen Frauen dazu gewonnen - viele von ihnen gehören zur Gruppe der Wechselwähler. Nach der jüngsten Umfrage der "Washington Post" meinen 60 Prozent der befragten Frauen, dass Sarah Palins Wahl ihr Vertrauen in die Führungskraft John McCains gestärkt habe. Für sie ist Sarah Palin das Symbol eines neuen, konservativen Feminismus. Der "Pit Bull mit Lippenstift", als den sich Palin manchmal scherzhaft bezeichnet.

Es ist elf Uhr in Fairfax, Virginia, über die Lautsprecher ertönen Geigen und Trompeten, die Sonne strahlt, es ist wie eine Ouvertüre zu einem Hollywoodfilm. Und dann, zu knackiger Rockmusik, kommen sie in vier goldfarbenen Jeeps vorgefahren. Erst seit ein paar Tagen ist Palin auf nationaler Wahlkampftour. Doch sie macht ihre Sache gut. Sehr gut. Und immer besser. "Wenn es sie nicht gäbe, hätte man sie erfinden müssen", sagt ein Anhänger und sprüht dabei vor Begeisterung.

Codewörter des konservativen Amerikas

Sie spricht gut 15 Minuten, charmant und kämpferisch, kein Stolpern mehr, keine Unsicherheit, manchmal streicht sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. In den vergangenen Tagen haben die Politstrategen ein paar wichtige Änderungen vorgenommen. Jetzt wird auch Gatte Todd ausführlich vorgestellt. Als Gewerkschafter und Fischer und Ölarbeiter in der Arktis - ein echter Kerl eben. Und anders als noch vor wenigen Tagen propagiert Palin jetzt ihre eigenen Erfolge. "Ich habe das alte System in Alaska, die Lobbyisten und die großen Ölkonzerne ordentlich durchgeschüttelt. So werden wir auch Washington durchschütteln", sagt sie. Behauptet, sie habe den Haushalt in Ordnung gebracht - als ob die gestiegenen Ölpreise und Steuereinnahmen damit nichts zu tun gehabt hätten. "Ich habe den Bürgern Alaskas ihr Geld zurückgegeben. Und was hat Obama gemacht? Er hat Vorlagen für acht Milliarden Dollar Subventionen unterschrieben."

Sie muss noch nicht einmal erwähnen, dass sie gegen die Abtreibung ist und gegen Sexualkundeunterricht in den Schulen, dass sie Waffenbesitz und die Todesstrafe befürwortet. Sarah Palin beherrscht die Codewörter des konservativen Amerika so gut, dass es ohnehin jeder weiß. Sie lacht und sie strahlt und jeder sieht: Sarah Palin genießt das größte Abenteuer ihres Lebens. 20.000 Zuschauer jubeln und skandieren "USA! USA! USA !" und " Go, girl, go!"

Dann spricht sie noch über eine neue Energiepolitik und davon, dass sie eine 40-Milliarden-Dollar-Pipeline verhandelt habe, die Gas aus der Arktis bringen soll. Verschweigt dabei, dass diese Pipeline im Moment nur auf dem Papier existiert, und erst in frühestens zehn Jahren gebaut wird. Sie spricht vom "Sieg unserer Truppen im Irak", den die USA dank der Standfestigkeit McCains errungen hätten. "Er war der einzige, der den Mumm hatte."

Noch so ein Schlüsselwort. "Guts". Mumm, Instinkt, Bauchgefühl. So sollen die Wähler ihre Entscheidung treffen. Nach ihrem Bauchgefühl. "In dieser Wahl geht es nicht um Inhalte" hatte McCains Sprecher gesagt. "Sie mag ja nichts von nuklearer Abschreckung verstehen", so der renommierte Kolumnist Thomas Friedman, "doch sie kann reden. Sie stellt eine intuitive Verbindung zu den Menschen her. Und Menschen wählen nun mal nach ihrem Bauchgefühl."

Nur, wenn die Rede auf die angeblich einseitige Presse kommt, dann rufen 20.000 Zuschauer laut "Buh! Buh! Buh!" Denn die schnüffle ja jetzt in Palins Leben herum, heißt es, und mache sich über die Schwangerschaft ihrer 17-jährigen Tochter lustig. Um solchen angeblichen Angriffen zu begegnen, gründeten McCains Strategen sogar eine so genannte "Einsatzgruppe Wahrheit". Dutzende Republikaner wehren sich da im Namen Palins gegen angebliche Verleumdungen. Ein Zitat schadete Obama dabei sehr: da sprach er über ein "Schwein, das Lippenstift trägt und trotzdem ein Schwein bleibt." Ein alter Ausdruck, auch McCain benutzte ihn, er bedeutet so viel wie "alter Wein in neuen Schläuchen." Aber weil der Lippenstift auf die einzige Frau im Wahlkampf verweise, warf man Obama gleich "abscheulichen Sexismus" vor.

Obama kämpft um sein Momentum

So jung hat man John McCain lange nicht gesehen. Locker, frisch, beinahe aufgekratzt, nach außen ganz der alte McCain. Diese Sarah schafft es, ihn vom Erbe Bushs zu befreien. "Wir werden Wandel nach Washington tragen" ruft McCain an diesem Morgen in Fairfax. "Wir werden die Vetternwirtschaft bekämpfen, auch die in unserer eigenen Partei. Obama ist noch nie gegen seine Partei aufgestanden."

Aggressiv versucht Obama, jetzt John McCain anzugreifen. Will Palins Politik entlarven. "Pseudo-Reformerin" nennt er sie. Noch ist Sarah Palin den ersten Realitätstest schuldig geblieben. Das erste große Interview, die TV-Debatte der Vizepräsidentschaftskandidaten. Wie sachkundig ist sie? Kann sie Schiiten von Sunniten unterscheiden? Wie würde sie mit Russland umgehen? Und wie die Wirtschaft aus der Krise führen, das 500 Milliarden Dollar Defizit bekämpfen? Obama wiederholt, wieder und wieder, dass es jetzt um Inhalte gehe, um Kompetenz. Dass McCain der eigentliche Gegner sei. Und dass es um echten Wandel gehe. Er will sein Momentum zurückgewinnen - aber manchmal scheint es, als ob das Wort "Zukunft" gerade zu den Republikanern abwandert.

Nach 30 Minuten ist an diesem Morgen in Fairfax alles vorbei. "Helft, Wähler zu werben", ruft McCain noch, sein Wunsch geht im Jubel unter. Die Menschen haben auch so verstanden. Auf dem Nachhauseweg nehmen sie Poster mit, die man im Vorgarten aufstellen kann. Es sind viele Poster, sehr viele Poster. Sie sind nach kurzer Zeit vergriffen.