Weder im Donbass noch bei Charkow konnten die Ukrainer den russischen Vormarsch bislang wirklich stoppen. Das schnelle Vordringen der ersten Tage zu Beginn der Charkiw-Offensive kam zum Erliegen, doch nach wie vor drängen die Russen die Verteidiger zurück. In einer ganzen Handvoll Dörfer gingen Stellungen verloren. In den wichtigen Städten Woltschansk und Taschasi Yar konnten die Russen größere Zonen besetzen.
Die zur Festung ausgebaute Stadt Taschasi Yar ist für die Ukraine von strategischer Bedeutung. Sie schirmt die letzte Verteidigungslinie im Donbass ab. Fällt Taschasi Yar können die Russen in den Rücken der Städtekette von Slowjansk im Norden und Kostjantyniwka im Süden gelangen. Mit einem massiven Angriff konnten die Russen in den östlich eines Kanals gelegenen Stadtteil eingedrungen. Offen ist derzeit, ob sie sich dort festsetzen können, oder ob die Ukrainer sie erneut rauswerfen können.
Langsames Vordringen bei Charkiw
In Wotschank haben die Russen ihre Kontrolle über den nördlichen Teil der Stadt gefestigt. Den Fluss Wowtscha haben sie zumindest an einer Stelle überquert und es kommt zu Kämpfen im südlichen Teil der Stadt. Wichtiger noch als Woltschansk ist der kleine Ort Lypzy. Hier kam es zu Kämpfen im nördlichen Datschen-Vorort, der eigentliche Ort wird nach wie vor von der Ukraine gehalten. Sowohl in Woltschansk als auch in Lypzy hat Kiew erhebliche Verstärkungen herangebracht. Lypzy ist schwer zu verteidigen, weil es in dem flächigen Ort überwiegend nur eine leichte Bebauung gibt und weil das Dorf von den nördlichen Hügeln eingesehen werden kann. Kiew wird versuchen den Ort auf jeden Fall zu halten, fällt Lypzy sind die Russen soweit vormarschiert, dass große Teile von Charkiw in den Bereich ihrer Artillerie gelangen und ihre kleinen Drohnen bis zum Stadtrand operieren können.
Neben diesen zentralen Orten gelangen den Russen an weiteren Stellen kleiner taktische Erfolge, außerdem sollen sie die Trümmer des Dorfes Robotyne unter ihre Kontrolle gebracht haben. Der Ort galt als der größte Erfolg, den Kiew in der missglückten Sommeroffensive 2023 befreien konnte. Die Rückeroberung durch die Russen hätte vor allem psychologische Bedeutung.
Abnutzungskämpfe bei Charkiw
Die Gefechte im Norden von Charkiw entwickeln sich zu den Abnutzungskämpfen, wie man sie aus dem Donbass kennt. Wobei das Wort "Abnutzung" sachlich klingt, die altertümlichen Begriffe "Fleischwolf" oder "Blutmühle" beschreiben den Charakter der Kämpfe besser. Das heißt, Geländegewinne sind zweitrangig, vorrangiges Ziel ist es, dem Gegner Verluste zuzufügen. Die Ukrainer können nach wie vor im Bereich des Drohnenkrieges mithalten, bei Luftangriffen und Artillerie können sie nur einen Bruchteil der russischen Feuerkraft aufbringen. Die Russen unternehmen alles, damit es so bleibt. Bei Charkiw ist als Verstärkung herbeigeführte Artillerie ihr vorrangiges Ziel. Ihre Drohnen versuchen Geschütze schon im Anmarsch auszuspähen, um sie, kaum dass sie im Kampfgebiet eingetroffen sind, zu zerstören.
In einem ersten Interview seit Beginn der Charkiw-Offensive sagte Präsident Selenskyj der Nachrichtenagentur AFP, die Lage in der Region Charkiw sei "kontrolliert", aber "nicht stabilisiert" worden.
"Ich sage nicht, dass es ein großer Erfolg für Russland ist, aber wir müssen nüchtern sein und verstehen, dass sie tiefer in unser Territorium vordringen."
Er fürchte, dass dies nur die "erste Welle" einer größeren Offensive sein könnte und räumte Probleme mit der Mannschaftsstärke und der "Moral" in der Truppe ein. "Wir müssen die Reserven auffüllen … Eine große Anzahl von Brigaden sind leer."
Ungenügende Befestigungen
Nördlich von Charkiw sollen die Russen nur wenige Truppen im Gefecht haben, angeblich sind die Ukrainer zahlenmäßig überlegen. Ob sie die Russen dauerhaft aufhalten können, hängt davon ab, ob ihre Befestigungsanlagen ausgebaut sind. Direkt an der Grenze fehlten alle Befestigungen. Im Netz kursieren Videos von unfertigen Anlagen, dazu Aufnahmen von lächerlich kleinen Drachenzähnen. Genüsslich führen die Russen gefangene und demoralisierte Ukrainer mit solchen Statements vor: "Die Verteidigung der Region Charkiw ist gleich Null, sie existiert einfach nicht. Die Bedingungen waren unzureichend, es gab keine Feuerpositionen, keine Unterstände, es gab nichts."
Für einen Aufbau neuer Stellungen ist es zu spät. Die FPV-Drohnen wirken etwa 15 Kilometer hinter der Kontaktlinie. In dieser Zone ist es jetzt unmöglich, Bagger und Zementmischer einzusetzen, dort kann nur heimlich von Hand geschanzt werden. Bei Charkiw haben die Russen erstmals neuartige Drohnen eingesetzt, die Ziele mit einem Laser beleuchten. Geschieht dies, werden die ukrainischen Fahrzeuge oder Stellungen sehr präzise von Krasnopol-Granaten ausgeschaltet.
Am 20.05 endet die reguläre Amtszeit von Präsident Selenskyj, wie von der Verfassung vorgesehen, wurden Wahlen ausgesetzt. Russische Blogger erwarten schwere Luftangriffe zu diesem symbolischen Datum.