Was bleibt festzuhalten? Die Grünen profitieren, SPD und FDP wollen sich profilieren. Und irgendwie scheint der Euphorie des Anfangs eine gewisse Ernüchterung gewichen zu sein. Aber eins nach dem anderen.
Vor ungefähr einer Zeitenwende sind SPD, Grüne und FDP angetreten, um mehr Fortschritt zu wagen – das war der Anspruch, mit dem die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene angetreten ist, um das Land neu zu denken und zu lenken. Auf Augenhöhe wolle man miteinander regieren, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seinerzeit, um gemeinsam den Status quo zu überwinden, pflichtete ihm Finanzminister Christian Lindner (FDP) bei.
Vom Kalten Krieg bis heute: die Geschichte der Nato in Bildern

Wenngleich sich an den hehren Zielen der Koalition nach 174 Tagen an der Regierung nichts geändert hat – und Entlastungspakete, der Zwölf-Euro-Mindestlohn und nun auch ein 100-Milliarden-Sondervermögen auf den Weg gebracht wurden –, macht sich nach der anfänglichen Mentalität des großen Miteinanders erste Katerstimmung im Bündnis breit.
Zahlreiche Streit- und Reizthemen in der Ampel-Koalition
Jedenfalls ist die Lage angespannt. Patzende Kabinettsmitglieder, Wahlpleiten und Streitigkeiten bringen die Fortschrittskoalition aus dem Tritt – inmitten des Ukraine-Krieges und der Coronakrise, die ihr Übriges beitragen.
- Um das geplante Klimageld zeichnet sich Zoff ab. Bundesarbeitsminister Heil (SPD) pocht auf eine schnelle Einführung, Bundesfinanzminister Christian Lindner bremste ebenso prompt ab.
- Die Coronapolitik bleibt Streitthema. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will eine mögliche Maskenpflicht ab Herbst vorbereiten, zum Unmut von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Zuvor waren die Minister beim Infektionsschutzgesetz aneinander geraten.
- Es fehlt an Klarheit in der Kommunikation. Soll die Ukraine den Krieg gewinnen? Bundesfinanzminister Lindner spricht sich klar dafür aus, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) zumindest von einer "strategischen Niederlage für Russland", während Bundeskanzler Scholz viel Raum für Spekulationen lässt: "Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine muss bestehen."
- Die Auseinandersetzung um Waffenlieferungen für die Ukraine hält an. Eine Aussage von Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller (SPD) sorgte für Irritationen bei den Grünen, wonach es innerhalb der Nato eine Absprache gegeben habe, keine Schützen- oder Kampfpanzer zu liefern. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, fordert wegen des "Kuddelmuddels" einmal mehr einen Koordinator im Kanzleramt und zeigte sich zuletzt "schwerst irritiert" über einen Tweet von Kanzler Scholz, in dem er sich fragte, ob Gewalt mit Gewalt bekämpft werden darf.
- Das Kabinett macht Negativschlagzeilen. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) musste nach massiver Kritik an ihrer Urlaubsreise kurz nach der Flutkatastrophe zurücktreten, Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) wird schon als "Problem-Ministerin" bezeichnet, auch, weil sie ihre Mitgenossen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Kanzler Scholz in Erklärungsnot brachte, während an der Minister-Eignung von Lauterbach gezweifelt wird, der in der FDP ohnehin nur wenig Wohlwollen zu genießen scheint.
Besonders SPD und FDP ist der Druck anzumerken, kannten die Landtagswahlen im Mai vor allem zwei Gewinner: CDU und Grüne. Beide Parteien setzen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen nun schwarz-grüne Bündnisse ins Werk – für Sozialdemokraten und Liberale waren die Wahlergebnisse eine Schmach. Und für die Ampelregierung im Bund freilich kein Rückenwind.
Die einen strotzen vor Kraft, die anderen sorgen sich um ihr Profil
Die Grünen profitieren, SPD und FDP wollen sich nun offenkundig profilieren. "Wir haben zu viel über Waffenlieferungen und zu wenig über steigende Kosten gesprochen", sagte SPD-Co-Chef Lars Klingbeil nach der NRW-Wahlschlappe und kündigte eine Kurskorrektur an, die künftig die sozialen Themen stärker in den Vordergrund stellen soll.

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Die FDP will sich offenbar auf ihren Markenkern besinnen, für solide Finanzen zu stehen – das konnte Bundesfinanzminister und Parteichef Lindner zuletzt kaum glaubhaft vermitteln, musste er angesichts von Krieg und Coronakrise doch Rekordschulden machen. "Gute Wirtschaftspolitik kann nicht mehr bedeuten, alles mögliche mit staatlichem Geld zu fördern", sagte er nun im ZDF. Es gehe jetzt um gute Rahmenbedingungen. "2023 ist für mich die Schuldenbremse nicht verhandelbar", so Lindner.
Derweil strotzen die Grünen vor Kraft, was für die Partei eine späte Genugtuung sein dürfte, hatte sie im Bund mitunter große Zugeständnisse zu machen – ein Tempolimit wurde nicht durchgesetzt, strengere Corona-Regeln scheiterten an der FDP. Dazu rückten die Grünen im Zuge des russischen Angriffskrieges – wie wohl keine andere Ampel-Partei – deutlich von zentralen Grundsätzen ab. Sie werben nun, allen voran Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesaußenministerin Baerbock, für Auf- statt Abrüstung und setzen sich für den Bau von Flüssiggasterminals ein.
Die Kehrtwenden, die vor allem von Habeck erfrischend und mitunter schockierend ehrlich kommuniziert werden, werden von den Wähler:innen offenbar goutiert. Allein: Baerbock und Habeck sind die beliebtesten Kabinettsmitglieder der Ampel, so das Marktforschungsinstitut Ipsos, während etwa Scholz und Lindner im Ansehen verlieren. Laut einer Insa-Umfrage für die "Bild am Sonntag" sind 41 Prozent der Bundesbürger der Meinung, dass die Grünen in der Ampel den Ton angeben. 28 Prozent sehen die SPD demnach als Taktgeber, nur elf Prozent die FDP.
Das alles könnte dazu beitragen, dass die Grünen fortan mit einem neuen Selbstbewusstsein im Bund auftreten und sich machtbewusster zeigen, wenn es darum geht, grüne Themen durchzusetzen. Für die Gesamtgemengelage bedeutet das womöglich Ungemach. Der Fokus aufs eigene Profil könnte zu Ego-Stunts führen, die eine Entfremdung der Ampel-Parteien zur Folge hätte. So wollte die Fortschrittskoalition den Aufbruch jedenfalls nicht verstanden wissen.