So energisch hatte der Sozialminister in die Öffentlichkeit gedrängt, dass seine Presseleute hektisch zu etwas einluden, was es gar nicht gibt: Zur Vorstellung des "3. Armuts- und Reichtsberichtes der Bundesregierung." Gemeint war: "Reichtumsbericht."
Offenbar waren auch Öffentlichkeitsarbeiter davon überrascht worden, dass Olaf Scholz in einem Sonntagsblatt ein Interview zum Thema Armut und Reichtum in Deutschland gegeben hatte, ohne dass der neue Armutsbericht überhaupt schon veröffentlicht worden war. Ursache der merkwürdigen medialen Operation: Scholz wollte den Auftritt als Solist. Auf keinen Fall wollte er, dass Familienministerin Ursula von der Leyen sein Thema mit kritischen Kommentaren begleitet. Daher der Schnellschuss, der vor allem der Verbreitung von SPD-Thesen zur Armut und ihrer Bekämpfung öffentlich machen sollte.
Aufschwung ausgeblendet
Aber wie hoch ist denn die Aussagekraft des Armutsberichts tatsächlich? Die Zahlen des Bundessozialministers orientieren sich an den Standards der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Für Alleinstehende beginnt das Armutsrisiko bei 781 Euro netto im Monat; als reich gelten Singles mit mehr als 3418 Euro netto im Monat verdienen.
Aber: Die Zahlen, die eine zunehmende Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland aufzeigen, basieren auf den Jahren 2002 bis 2005 - der Krisenphase der rot-grünen Koalition, in denen die Bruttolöhne um 4,7 Prozent gesunken sind. Damit ist die positive Entwicklung zu Zeiten der Großen Koalition ausgeblendet, in denen die Arbeitslosenzahl stark zurückgegangen und die Konjunktur enorm in Fahrt gekommen ist. 2005 waren 5,3 Millionen Menschen ohne Arbeit, heute sind es nur noch 3,3. Inzwischen gibt es knapp 40 Millionen Beschäftigte - mehr als jemals zuvor. Das Armutsrisiko ist so betrachtet in den letzten beiden Jahren tatsächlich gesunken, was nicht einmal Scholz leugnen will.
Bundestagswahlkampf lässt grüßen
Mit einer genaueren Analyse der Lage gibt sich die SPD wohlweislich gar nicht ab. Die Vermögenssteuer müsse wieder her, fordern die Genossen, die es waren, die sie vor zehn Jahren ausgesetzt haben. Der Reichtum müsse endlich umverteilt werden. Also her auch mit einer höheren Erbschaftssteuer. Die CDU wiederum ruft laut nach geringerer Steuerbelastung für mittlere Einkommen. Der Bundestagswahlkampf 2009 grüsst fröhlich mit diesen Forderungen.
Wer die Problemgruppen des Armutsberichts genauer betrachtet, muss allerdings akzeptieren, dass der Kampf gegen Armut keineswegs in erster Linie ein Geldbeschaffungsproblem auf dem Wege zusätzlicher Steuern oder von Steuersenkungen ist. Sie verlangt spezielle Maßnahmen bei den besonders stark betroffenen Gruppen.
Problem Bildungspolitik
Dass der vor allem zu SPD-Regierungszeiten verschlafene Ausbau der Möglichkeiten öffentlicher Kinderbetreuung die Armutsentwicklung beschleunigt hat, wird nur am Rande erwähnt. Können Vater und Mutter erwerbstätig sein, fällt die Kinderarmut steil ab auf vier Prozent. 16 Prozent aller Kinder wachsen bei nur einem Elternteil auf, 1996 waren es nur zwölf Prozent. Bei diesen Alleinerziehenden ist Armut praktisch ebenfalls vorprogrammiert. Denn sie können nur arbeiten, wenn die Versorgung ihrer Kinder garantiert ist. Armut hat auch die Bildungspolitik produziert. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss stieg während der Schröder-Regierung vor allem in den neuen Ländern dramatisch an von sechs auf elf Prozent. Wer als Schulabgänger nicht ausbildungsfähig ist, taucht garantiert im nächsten Armutsbericht auf. Skandalös ist auch, dass jedes Jahr 80.000 jungen Menschen ohne Abschluss ihre Schule verlassen. 15 Prozent der Bevölkerung bleiben außerdem ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Dass die Große Koalition hier jetzt einen Rechtsanspruch auf den nachträglichen Erwerb eines Hauptschulabschlusses einführen will, ist ein vernünftiger Schritt. Allerdings redet Scholz hier über ein Problem, bei dem er nichts zu sagen hat: Denn Bildung ist Ländersache.
Ein politisches Armutszeugnis
Wenig aussichtsreich an der jetzt über den Armutsbericht entbrannten Diskussion ist auch, dass die SPD unverzüglich flächendeckende Mindestlöhne fordert. Die Union hält hart dagegen: Das sei ein sicherer Weg, um weitere Arbeitsplätze zu vernichten. Und das Bundeskabinett selbst drückt sich vor einer Diskussion. Der "Entwurf", den Scholz jetzt so hastig auf den öffentlichen Markt geworfen habe, müsse erst einmal abgestimmt werden, ehe man Ende Juni sich damit befassen könne.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Unterm Strich des Armutsberichts steht damit ein politisches Armutszeugnis. Die Politik beklagt die Defizite - und macht weiter wie bisher. Vor allem das Schul- und Ausbildungsproblem bedarf noch viel mehr Aufmerksamkeit, als ihm bislang zuteil wird.