Aus stern Nr. 44/2004. Der Fluch der Ohnemichs

Die Union lässt Angela Merkel hängen - und zerstört sich damit selbst. Deutschland hat keine Regierung im Wartestand mehr.

Das Land hat keine Alternative mehr. So nicht. Das ist das bittere, das niederschmetternde Fazit der Selbstzerstörung der Union, ja der gesamten Opposition, deren augenreibende Zeugen wir geworden sind. Deutschland hat keine Regierung im Wartestand mehr. Keine, die antreten könnte und wüsste, was sie täte, wenn die aktuelle Regierung die Kräfte verließen. Keine, zu der die Wähler und das Land Vertrauen fassen und Zuflucht suchen könnte. Das kann niemanden unberührt lassen, gleichgültig, wo er selbst politisch steht. Sarkasmus, Zynismus, achselzuckende Abwendung werden dieser Lage nicht gerecht. Schadenfreude schon gar nicht. Die Katastrophe der Union ist eine Katastrophe für Deutschland.

Richtungsstreit, Rivalität, Machtkampf gehören zur Politik wie der Schwanz zum Hund. Sie können fruchtbar sein, meist sind sie es sogar, weil sie am Ende zur Klärung beitragen. In diesem Fall ist es anders. Einen solchen Abgrund an Verantwortungslosigkeit, Verlogenheit und Intriganz hat die an Verirrungen gewiss nicht arme Politik noch nicht erlebt. Erst kommt die Partei, dann das Land - an dieses uneingestandene Motto der Politik hat man sich gewöhnt. Die Union hat nun eine Premiere inszeniert: Erst komme ich. Dann die Partei. Dann nichts mehr. Das Land? Ach ja, das Land...

Ohne mich. Sagt Friedrich Merz und tritt zur Seite, damit die verhasste Vorsitzende in die Lücke stürzt, die er hinterlässt. Ohne mich, sagt Wolfgang Schäuble, damit Angela Merkel spürt, wie es ist, wenn man fallen gelassen wird. Ohne mich, sagt Christian Wulff und schont die Kräfte, bis die Vorsitzende sich matt gestrampelt hat und die Sehnsucht wächst nach einem Retter. Ohne uns, sagen Roland Koch, Jürgen Rüttgers, Peter Müller und all die anderen, die die Verweigerer gewähren lassen und den Autoritätsverfall der Kandidaten-Kandidatin aus der Loge beobachten. Nur mit mir, sagt Edmund Stoiber und zersägt das Programm der protestantischen, kinderlosen Frau aus dem Osten, damit die begreift, dass ohne Männer aus dem Westen, speziell aus dem Süden des Westens, einfach nichts zu machen ist in der katholischen Macho-Union. Niemals ohne mich, sagt Horst Seehofer und zerquetscht die Kopfpauschale der Reformerin zu Kompromiss-Mus. So, Angela, nun schau mal, wie du da rauskommst.

Führung und Verantwortung - nichts braucht das Land in dieser Lage mehr als diese Eigenschaften. Da Konzerne wanken, Jobs versinken und fast die Hälfte der Menschen nicht mehr zur Wahl geht. Da Vertrauen verbrannt ist und täglich neu verbrennt. Nun das Vertrauen in die Alternative, in die organisierte Vertrauenswürdigkeit der Bürgerlichen. In diejenigen, die sich selbst gerne als die staatstragenden Kräfte feiern. Auf die angeblich Verlass ist, wenn das Land Not leidet.

Früher war es anders, da war die Auswahl erstrangigen politischen Personals breiter und vertrauenerweckender. Heute hat die Nation nur noch zwei Figuren, denen die Härte zur Führung gegeben ist: Gerhard Schröder und Angela Merkel.

Merkel, Stoiber und Westerwelle - statt klarer Führung ein Trio instabile

Der eine hat sie spät gewonnen, der anderen wird sie früh genommen. Sie ist geschwächt, verwirrt, zuzeiten offenbar in Panik. Nach Merzens Rache den nicht minder auf Revanche lauernden Schäuble öffentlich zu bitten, ohne ihn vorher gewonnen zu haben, war ein Infarkt ihres Instinkts. Nun reiben sich so viele die Hände, dass mit der Energie die Parteizentrale zu heizen wäre. Wo die Leidenschaft regiert, hat die Vernunft verloren.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Angela Merkel wollte Neues wagen, aus den erschöpften Systemen der alten Bundesrepublik ausbrechen. Die Kopfpauschale war ihr Symbol. Nun wird aus einer reinrassigen Reform ein Bastard an Widersprüchen. Sie wollte meisterhafte Führung zeigen, und bei der Wahl Horst Köhlers zum Präsidenten lieferte sie ihr Gesellenstück ab. Nun schiebt sich neben sie der damals traumatisch ausmanövrierte Stoiber. Und neben den Guido Westerwelle - Stoibers "Leichtmatrose", äh "Junggeselle", der ohne Not und ohne die FDP zu fragen auf das Außenministerium verzichtete. Und sein Wahlprogramm von Wolfgang Gerhardt schreiben lässt. Eine Entmachtete, ein Machthungriger und ein Machtflüchter werben darum, ihnen die Macht anzuvertrauen. Trio instabile.

Ist die Union nicht völlig von Sinnen, kann das nicht das letzte Wort sein. Entweder sie setzt auf Angela Merkel, ganz und gar, gibt ihr freie Hand. Oder sie ist nicht nur unfähig zu regieren - sie hätte es auch nicht verdient

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Hans-Ulrich Jörges