Am Morgenhimmel hingen Wolken, als am 5. November 2019 um 7.10 Uhr die Maschine mit dem Staatssekretär an Bord in München landete. Um 8.30 Uhr hatte Jörg Kukies im dortigen Vorort Aschheim seinen ersten Termin des Tages – mit Markus Braun, dem heute inhaftierten Vorstandschef des inzwischen bankrotten Konzerns Wirecard.
Kukies, 52 Jahre alt, ist sowohl langjähriger Sozialdemokrat wie auch Banker – eine selten gesehene Kombi. Er war früher Manager bei der US-Investmentbank Goldman Sachs und ist heute Staatssekretär im Finanzministerium unter Olaf Scholz (SPD). Warum besuchte Kukies an diesem Dienstag im November 2019 Braun für ein Vier-Augen-Gespräch – noch dazu auf Kukies‘ eigene Initiative und an Brauns 50. Geburtstag? Das gehört zu den Rätseln, die jetzt ein Untersuchungsausschuss des Bundestages aufklären will.
Es geht um einen der größten Wirtschaftsskandale in der Geschichte der Bundesrepublik und um die Frage, warum deutsche Behörden über Jahre hinweg immer wieder Wirecard gegen Betrugsvorwürfe in Schutz genommen hatten – bis es im Juni diesen Jahres zu spät war und Anleger und Banken an die 20 Milliarden Euro abschreiben mussten.

Der stern und das Wirtschaftsmagazin "Capital" konnten dazu jetzt bisher unbekannte interne Unterlagen aus dem Finanzministerium und der Finanzaufsicht Bafin auswerten. Die Unterlagen werfen neue Fragen auf und sie untermauern einen Verdacht: Dass deutsche Aufseher das deutsche Unternehmen Wirecard mit Samthandschuhen anfassten – und zugleich mit beträchtlicher Härte gegen vermeintlich böswillige Kritiker im Ausland vorgingen.
Sicher ist: Als Kukies am 5. November 2019 Braun zu einem einstündigen Gespräch traf, schien die Beweislage gegen den Wirecard-Konzern eigentlich bereits erdrückend. Braun weist zwar bis heute alle Vorwürfe gegen sich zurück. Aber bereits am 15. Oktober 2019 hatte die britische Wirtschaftszeitung "Financial Times" (FT) über konkrete, auf interne Unterlagen gestützte Indizien berichtet, dass die Hälfte des Umsatzes und ein Großteil des Gewinns von Wirecard erschwindelt sein könnten.
Dennoch will Kukies – so stellt es das Finanzministerium dar – im November 2019 mit Braun über eine Vielzahl eher harmloser Themen diskutiert haben – über die Geschäftsmodelle verschiedener Zahlungsdienstleister, von Wirecard bis Paypal, über Kryptowährungen und über Fremdkapital für Start-up-Firmen. Und ja, auch die Betrugsvorwürfe gegen Wirecard seien ein Thema gewesen, sowie die Sonderuntersuchung, die die Prüfgesellschaft KPMG gerade begonnen hatte. So stellt es das Finanzministerium dar.
Doch folgt man den internen Unterlagen, die stern und "Capital" vorliegen, dann dürften die Manipulationsvorwürfe sehr viel stärker im Vordergrund gestanden haben, als das der Staatssekretär heute glauben machen will.
"Die Unterlagen wurden äußerst vertraulich behandelt"
Am 31. Oktober 2019 – einem Donnerstag – informierte jedenfalls ein Bediensteter des Ministeriums das zuständige Referat für "Börsen- und Wertpapierwesen", dass der Staatssekretär für sein Gespräch mit dem Wirecard-Chef eine schriftliche Vorbereitung bis Dienstschluss am 4. November brauche. Es solle dabei "ausschließlich um die Ermittlungen und die Sonderprüfung der Bafin wegen der bekannten Vorwürfe im Hinblick auf eine mögliche Marktmanipulation gehen". Auffällig auch: Kukies‘ Büroleiter hatte die Bitte ausdrücklich nur mündlich weitergegeben. Die "vorbereitenden Unterlagen" seien "äußerst vertraulich behandelt" worden, hielt eine Ministeriale im August diesen Jahres fest.
Geheimsache Betrug? Dan McCrum, der Journalist der "Financial Times", der das Unternehmen mit seinen Recherchen letztlich zu Fall brachte, hatte damals eigentlich etwas anderes erwartet – dass nach seiner Veröffentlichung am 15. Oktober 2019 die Polizei bei Wirecard einmarschieren würde. "Warum wurde Wirecard nicht gleich am nächsten Tag durchsucht?", fragte McCrum bei einer Anhörung im Untersuchungsausschuss Anfang November. Warum habe man dem Unternehmen weiter Zeit gelassen, "sich selbst zu untersuchen" und dann die Prüfgesellschaft KPMG mit einer Sonderuntersuchung zu beauftragen?
In der Tat muss damals bereits eigentlich auch den zuständigen Mitarbeitern in der Scholz unterstellten Bafin gedämmert haben, dass die Lage bei Wirecard ernster sein könnte, als bisher gedacht. Das zeigen auch die Akten. Am 25. Oktober – immer noch geschlagene zehn Tage nach McCrums Enthüllung – bestellte das Börsen-Referat des Finanzministeriums bei der Bafin eine Einschätzung der Zeitungsrecherche – angestoßen durch die Anfrage eines Bürgers, der sich Sorgen um sein Investment bei Wirecard machte.
Der Bafin fiel auf, dass Wirecard mit wechselnden Dementis operierte
Fast drei Wochen später – am 15. November – antwortete die Bafin dem Ministerium. Die Aufsicht bestätigte, dass die neuen FT-Vorwürfe "einen deutlich größeren Anteil der Umsätze von Wirecard" beträfen, als das bei früheren Veröffentlichungen der Fall gewesen sei. Den Bafin-Experten war auch aufgefallen, dass Wirecard wechselnde Erklärungen für anscheinende Unregelmäßigkeiten anbot – mal waren Unterlagen angeblich gefälscht, dann offenbar doch echt. Hier könne "ein Verstoß gegen das Verbot der Marktmanipulation durch falsche oder irreführende Angaben im Rahmen der Finanzberichterstattung vorliegen", notierten die Bafin-Leute.
Marktmanipulation ist eine Straftat, die die Bafin laut Gesetz bei der Staatsanwaltschaft anzeigen muss – wenn denn "Tatsachen vorliegen, die nach kriminalistischer Erfahrung den Anfangsverdacht einer Straftat begründen", sagt der Kölner Bilanzrechtler Martin Waßmer.
Doch im November 2019 wollte es die Bafin erstmal dabei belassen, die KPMG-Prüfung abzuwarten. Und man wollte mit Wirecard Briefe austauschen: "Im Rahmen der Untersuchung wird die Bafin die Wirecard AG umfangreich zur Stellungnahme zu den Vorwürfen der FT und zurVorlage weiterer Dokumente auffordern", schrieben die Aufseher an das Finanzministerium.
Die im Wochentakt tagende Abteilungsleiterrunde unter der für die Marktaufsicht zuständigen Bafin-Exekutivdirektorin Elisabeth Roegele beschäftigte sich ausweislich der Protokolle sogar erst einen Monat nach der FT-Veröffentlichung mit dem Fall Wirecard, nämlich am 15. November 2019. Es gab offenbar Dringenderes.
Die Bafin habe damals ja nicht über "belastbare Aussagen von Wirtschaftsprüfern oder anderen zur Fehlerhaftigkeit der Rechnungslegung von Wirecard" verfügt, die ein Einschreiten erlaubt hätten, ließ Scholz die vornehme Zurückhaltung im Nachhinein erklären.
Aus heutiger Sicht klingt es bizarr, aber auch im Herbst 2019 sahen die Frankfurt ansässigen Aufseher allen Ernstes weiter Wirecard als mögliches Opfer finsterer Machenschaften – und Journalisten als Täter. Es bestehe die Möglichkeit, dass es bei dem FT-Rechercheur "ein kollusives Zusammenwirken mit den Inhabern von Shortpositionen" gegeben haben könnte – also mit Anlegern, die auf fallende Kurse bei Wirecard setzten. Auch das, so die Bafin-Experten in ihrem Schreiben vom November 2019, könnte ein "Verstoß gegen das Verbot der Marktmanipulation" sein.
Strafanzeige gegen Journalisten
Ein Journalist der wohl angesehensten Wirtschaftszeitung der Welt, der seine Rechercheergebnisse vorab Spekulanten verrät, damit die Kasse machen können? Ja, in der Welt der Bafin war das denkbar. Die Behörde hatte noch im April 2019 sogar Strafanzeige gegen McCrum und eine Kollegin gestellt, offenbar gestützt auf dubiose Anschuldigungen, die der Wirecard-Vorstand bei der Staatsanwaltschaft München hinterlassen hatte.
Während das im Fall der Journalisten genügte, um gegen sie vorzugehen, schreckte die Aufsicht vor einem schärferen Vorgehen gegen Wirecard zurück, obwohl der Behörde hier sogar belastende Dokumente vorlagen. Im Januar 2019 hatte – wie der stern im Oktober publik machte – ein Whistleblower der Bafin den vorläufigen Untersuchungsbericht der Anwaltskanzlei Rajah & Tann zu Betrugsvorwürfen zugeschickt, auf den sich dann auch die FT stützte. Ende März 2019 spielte Wirecard dann diese Untersuchungsergebnisse in einer Ad-hoc-Meldung herunter. Aber aus den Akten lässt sich nicht erkennen, dass die Bafin dies als Versuch der Marktmanipulation untersucht hätte.

Bei der Münchner Staatsanwaltschaft und bei der Bafin glaubte man damals weiter den Einflüsterungen der Wirecard-Manager. Eine Referentin hielt am 15. Februar 2019 handschriftlich fest, was die Münchner Staatsanwaltschaft gerade per Fax nach Frankfurt übermittelt habe – eine Räuberstory, die offenkundig ebenfalls von Wirecard stammte: "Dass die Wirecard AG zur Zahlung einer hohen Geldsumme aufgefordert worden sei, ansonsten würden sich weitere Personen und Medien der negativen Berichterstattung, die seit dem 31.01.2019 erfolgte anschließen." Die Staatsanwaltschaft schätze diese Information "als glaubhaft ein".
Also die FT und weitere internationale Zeitungen in einer groß angelegten Verschwörung mit Investoren, gegen ein unschuldiges deutsches Unternehmen? In dieser wahnhaft erscheinenden Welt lebten die Aufseher. Es gebe "Hinweise, dass weitere negative Berichte insbesondere branchenrelevanter Medien" drohen könnten, hielten sie fest und erließen kurz darauf ein sogenanntes Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien – ein so nie dagewesener Schritt, der aber bei den Anlegern den Eindruck hinterließ, dass das Unternehmen unbescholten sei und unter dem Schutz der deutschen Behörden stehe.
Aus den Unterlagen geht hervor, dass sich die zuständige Exekutivdirektorin Elisabeth Roegele persönlich im Detail um das Leerverkaufsverbot kümmerte; sie korrigierte im Entwurf von zwei Mitarbeiterinnen sogar zwei Rechtschreibfehler. Und sie ging über Bedenken der Bundesbank hinweg. Der FDP-Finanzexperte Florian Toncar argwöhnt darum, dass das Verbot damals mit Minister Scholz oder zumindest dessen Staatssekretär Kukies abgesprochen war. Es erscheine ihm, so Toncar, "nahezu unvorstellbar, dass die Leitungsebene des Bundesfinanzministerium diese sehr ungewöhnliche Maßnahme nicht vorher abgesegnet hat".

Sicher ist: Am 8. März sprach Bafin-Chef Felix Hufeld mit Staatssekretär Kukies über die Schritte der Finanzaufsicht – also drei Wochen nach dem Leerverkaufsverbot und einen Monat vor der Anzeige gegen die Journalisten. Einen Tag vor dieser Anzeige schickte die Bafin überdies einen Bericht über ihr Vorgehen an das Ministerium ("Aktueller Sachstand zum Themenkomplex Wirecard"). Ja, man sei von der Bafin "vorab über den Entwurf der geplanten Allgemeinverfügung zum Leerverkaufsverbot informiert" worden, bestätigt das Ministerium. Und die Bafin habe im April 2019 auch das Ministerium darüber unterrichtet, "dass sie aufgrund ihr vorliegender Informationen und im Rahmen laufender Untersuchungen eine Strafanzeige wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation zur Wirecard AG geprüft habe und zu stellen beabsichtige".
"Es würde mich sehr überraschen wenn die Bafin eine Strafanzeige gegen einen Journalisten einer führenden Wirtschaftszeitung ohne Rücksprache raus haut", sagt der Linken-Finanzexperte Fabio De Masi heute.
Sicher ist: Eine Bafin-Sprecherin säte damals auch öffentlich Zweifel an den FT-Recherchen. "Nachrichten, deren Wahrheitsgehalt nicht geklärt ist, wurden in den Wert der Aktie eingepreist, als seien sie wahr", begründete sie die Intervention zu Gunsten von Wirecard. Nur: In den folgenden Monaten März, April und Mai untermauerten die FT-Journalisten ihre Vorwürfe gegen Wirecard mit weiteren Berichten über mögliche Scheingeschäfte. Bereits im April vermeldeten sie, was dann im November auch bei der deutschen Finanzaufsicht ankam: Dass die Hälfte des Wirecard-Umsatzes zweifelhaft erscheine und jedenfalls von drei "undurchsichtigen Partnerfirmen" gekommen sei.
Internationale Medien las man "nur in Ausnahmefällen"
Die Enthüllungen in den Monaten März, April und Mai hatten die Mitarbeiter in den Bafin-Referaten für Bilanzkontrolle und Marktmanipulation allerdings gar nicht gelesen. Das stellten jüngst Prüfer für eine EU-Aufsichtsbehörde erstaunt fest. Die Bafin-Pressestelle fertige zwar zweimal täglich einen Pressespiegel mit Zeitungsausschnitten, konzentriere sich dabei aber auf nationale deutsche Zeitungen, erfuhren die Prüfer von der Bafin: "Internationale Medien werden nur in Ausnahmefällen berücksichtigt."
Zugleich handelten Bafin-Mitarbeiter weiter selbst immer wieder mit Aktien und anderen Wertpapieren von Wirecard. Das war ihnen erlaubt, selbst für Unternehmen, die von der Behörde beaufsichtigt werden. Einige Beamte wetteten sogar mit hoch riskanten Finanzprodukten auf einen sinkenden Aktienkurs, insbesondere in den Monaten vor der Pleite des Konzerns. Innerhalb der Bafin gab es also selbst Shortseller, die auf Wertverluste bei Wirecard spekulierten – während die gleiche Behörde ausländische Leerverkäufer über Jahre hart verfolgte.
Dass da vielleicht ein bisschen viel Wagenburgmentalität im Spiel gewesen sein könnte, fiel dann in diesem Sommer auch Mitarbeitern von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf. Ein US-Investor, so schrieben sie in einer Vorlage für den Chef, habe für die Bafin bereits die Zeile "Moscow on the Main" geprägt – als regierte am Frankfurter Dienstsitz der Bafin ein abgeschottetes Politbüro.
Sollte man sich vielleicht zumindest nachträglich bei dem Journalisten Dan McCrum entschuldigen, fragte der Linken-Abgeordneten Fabio De Masi darum vor einigen Tagen den Bafin-Chef Hufeld. Der fand schon die Idee empörend: "Ich finde das obszön, ein solches Ansinnen, und weise das mit aller Entschiedenheit zurück", sagte Hufeld. Schließlich habe man stets nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.

Wie wenig Schuldbewußtsein der Bafin-Chef hat, zeigte sich bereits Ende Juni. Da musste sich die Behördenspitze im Verwaltungsrat erklären – und verteidigte das Vorgehen im Fall Wirecard, auch das seinerzeitige Leerverkaufsverbot: "Man werde in vergleichbarer Situation wieder so handeln", erklärten die Bafin-Leute laut einem Protokoll, das stern und "Capital“ vorliegt: "Man habe den Markt vor Manipulation schützen wollen."
"Entweder war man nützlicher Idiot, oder man hat Wirecard bewußt geschützt", glaubt der Grünen-Finanzexperte Danyal Bayaz. Er ging im September darum auch Minister Scholz an. Bräuchte es nicht eine Entschuldigung bei den Journalisten? "Ich habe keine Anzeige erstattet, wenn ich das einmal sagen darf", antwortete Scholz leicht pampig – und er sei "dankbar" für die Arbeit der Journalisten.
Immerhin.