Reservekanzler? Drei Gründe für den Pistorius-Hype – und drei Haken

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)
© Kay Nietfeld / DPA
Populär, nahbar, anpackend: Boris Pistorius scheint alles zu sein, was Olaf Scholz nicht ist. Schon wird der Verteidigungsminister als Reservekanzler gehandelt. Doch der Hype hat seine Tücken.

Drei Gründe für den Pistorius-Hype…

Pistorius, die Projektionsfläche. Der Verteidigungsminister hat "Bock auf den Job" im Bendlerblock, wie er kurz nach Amtsantritt sagte, und die Menschen merken das. Boris Pistorius klotzt ran, redet Klartext und zeigt Kante. Mit den regelmäßigen Raufereien seiner Kabinettskollegen hat er wenig zu tun – weil sich niemand mit ihm raufen will. Worüber auch? Dass die Bundeswehr modernisiert und gestärkt werden muss, auch in finanzieller Hinsicht, ist (ausnahmsweise) Konsens in der Koalition. Und der Verteidiungsminister dreht dafür an vielen Stellschrauben, ohne sich grobe Schnitzer zu leisten. Die Ampel verliert sich in Streitereien, Pistorius lieber in Arbeit – so der Eindruck. Das bockt dann auch bei den Bürgern, die in ihm eine Art Projektionsfläche sehen: Es geht doch! Folglich führt der Verteidigungsminister seit Monaten die Liste der beliebtesten Politiker an, ist ausweislich einer "Bild"-Umfrage sogar der wünschenswertere Kanzler als Amtsinhaber Olaf Scholz. 

Kontrast zu Scholz. Charisma? Hat der Kanzler leider nicht. Kann man bedauern, muss man aber hinnehmen, "man" im Sinne von Wählerinnen und Wähler und den eigenen Leuten. Natürlich ist Politik in erster Linie Handwerk, aber über die Qualitäten des Klempners der Macht hat der Oppositionsführer Friedrich Merz kürzlich anschaulich berichtet. Daneben ist Politik natürlich Kommunikation – auch was diese Disziplin betrifft, ist über den Kanzler alles Wesentliche länglich beklagt worden. Politik ist darüber hinaus aber immer auch Performance – ein bisschen Obama, Kennedy, zumindest Gerhard Schröder in früheren Tagen. Es ist der Auftritt, das Aktentaschen-hafte, das Besserwisserische, das Mausgrau und das provozierende Phlegma – allesamt Eigenschaften, die niemand je mit Boris Pistorius verbinden würde. Der Verteidigungsminister spricht mit fester Stimme, laut und klar und tief; trägt – so absurd das klingen mag – immer die richtigen Schuhe und hinterlässt nicht nur im militärischen Umfeld bleibenden Eindruck, sondern auch in jenem Teil der Bevölkerung, der sich nach Haltung, Richtung und ja, auch das, stärkerer Führung sehnt.

Der Ruck-Effekt. Personalwechsel haben immer einen belebenden Effekt, Pistorius selbst ist dafür das beste Beispiel. Seitdem er das Wehrressort von Christine Lambrecht übernahm, gilt sein Haus zumindest nicht mehr als Pleiteministerium. Auch deshalb träumen manche Genossen insgeheim von einem Pistorius-Umzug ins Kanzleramt. Neuanfang, Bruch, Weckruf: Es ließe sich allerlei damit erzählen, auch vor den Wählerinnen und Wählern. Ob Partei oder Ampel, alle könnten auf neuen Schwung hoffen, so das Kalkül. Wie soll der sonst entstehen? Ist die Lage nicht so desolat und Scholz so irreparabel beschädigt, dass nur ein Beben noch hilft? Im Kanzleramt ist man fast amüsiert über diese Spekulationen. Noch seien es fast zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl, außerdem habe sich Scholz noch in jeder Krise stabilisiert. Die Geduld in seiner Partei aber, das ist in diesen Tagen zu spüren, schwindet.

…und drei Haken daran

Wie könnte Pistorius Kanzler werden? Ganz so leicht ginge das wohl nicht. Formal der schnellste Weg wäre, wenn Olaf Scholz zurücktreten würde wie vor fast genau 50 Jahren Willy Brandt wegen der Guillaume-Affäre. Dann müsste sich die die Ampel-Koalition auf einen neuen Kandidaten verständigen. Das aber dürfte nicht so einfach sein. FDP und Grüne hätten erst einmal Diskussionen zu erwarten, ob sie die Ampel überhaupt fortsetzen wollen. Und selbst in der SPD wäre eine uneingeschränkte Unterstützung für Pistorius nicht gewiss. Fraktionschef Rolf Mützenich war zuletzt nicht begeistert von der Forderung des Verteidigungsministers, Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden. Anders als Herbert Wehner 1974 gilt der heutige Fraktionsvorsitzende dem amtierenden Kanzler gegenüber als loyal.

Sollten sich SPD, Grüne und FDP am Ende aber doch verständigen, müsste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Bundestag die Wahl von Pistorius vorschlagen. Dass der Minister nicht Mitglied des Bundestages ist, wäre kein Problem. Auch Kurt-Georg Kiesinger, 1966 bis 1969 Kanzler der ersten großen Koalition, hatte kein Bundestagsmandat, sondern war vorher Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Helmut Schmidt wurde 1974 neun Tage nach Brandts Rücktritt vom Bundestag gewählt. Die Opposition, namentlich Friedrich Merz und die Union, würden Scholz’ Rücktritt allerdings als Scheitern der Ampel insgesamt werten und Neuwahlen fordern. Dafür aber reichte ein Rücktritt des Kanzlers nicht. Vielmehr müsste Scholz im Parlament die Vertrauensfrage stellen – und verlieren. Nur dann kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen.

Mal angenommen, dass… Will er überhaupt? Abgesehen von den, sagen wir: Modalitäten, ist noch ein weiterer Faktor entscheidend: der Wille zur Macht und die Bereitschaft, diesem Anspruch alles unterzuordnen. "Ich will da rein!" – das wusste Gerhard Schröder schon zu seinen Juso-Zeiten, als er nach einer Kneipentour am Zaun des Kanzleramts rüttelte. Pistorius lässt diesen Drang derzeit nicht erkennen. "Ich bin mit knapp 63 in dieses Amt gekommen", sagte er Ende letzten Jahres im stern-Interview, für ihn sei das "kein Sprungbrett für höhere Aufgaben". Er müsse nicht aus Rücksicht auf seine Karriere taktieren oder heikle Themen umgehen. Stattdessen könne er sich um die "vielen wichtigen Aufgaben" kümmern. "Das ist zwar kein leichtes Amt. Und doch habe ich es leichter als andere vor mir, weil ich den Ballast weiterer Ambitionen nicht mit mir rumtrage." Glaubt man dieser Darstellung, müsste Pistorius sozusagen ins Kanzleramt getragen werden. Dass Scholz das tun würde (siehe oben), ist eher unwahrscheinlich. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Ampel ist immer noch die Ampel. Auch einen Kanzler Pistorius gäbe es nicht im luftleeren Raum. Da sind ja noch zwei: die Grünen und die FDP. Selbst wenn er die SPD-Sehnsucht danach befriedigte, mal mehr durchzugreifen, eine Ansage zu machen – ob er die nach außen getragenen Streitigkeiten der Ampel zähmen könnte, ist fraglich. Zwei Jahre lang hat es die Ampel entgegen anderslautender Beteuerungen nicht geschafft, einen Eindruck von Gemeinsamkeit zu erzeugen: Zu groß sind die Unterschiede in den politischen Grundüberzeugungen. Die Lage hat sich noch zugespitzt, seit der Regierung durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Finanzierungsgrundlage weggebrochen ist. Auch wenn der Haushalt für 2024 nun steht, der kommende dürfte nicht weniger schwer werden. Oder anders formuliert: Nur weil der Kanzler ein anderer ist, wird sich die FDP nicht plötzlich von der Schuldenbremse verabschieden. Und, achso, da war noch was: Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gibt es natürlich auch dann noch, wenn der Kanzler Pistorius hieße. Angesichts der aktuellen Umfragewerte kann da in der Ampel schon mal Panik ausbrechen.