Boris Pistorius gilt als Mann der klaren Worte und kernigen Botschaften. Er habe "richtig Bock" auf den Job, sagte er kurz nach Amtsantritt im Januar 2023. Und weil in anderthalb Jahren Ampel-Alltag ja viel passieren kann, stellte der Verteidigungsminister neulich nochmal klar: "Ich habe immer noch großen Bock".
Gut, dass er das noch einmal so deutlich gesagt hat. Schließlich konnte man zuletzt Zweifel bekommen, ob sich bei Deutschlands beliebtestem Politiker im Streit um mehr Geld für seinen Haushalt nicht doch ein bisschen Frust aufstaut. Und als wäre das nicht genug, musste der SPD-Mann nun den nächsten Dämpfer hinnehmen – ausgerechnet bei dem Thema, mit dem er nach der Europawahl erneut beweisen wollte: Ein Boris Pistorius redet nicht nur Klartext, er packt an, und sei das Eisen noch heiß.
Am Montag hat der Verteidigungsminister hinter verschlossenen Türen erstmals seine geplante Wehrdienst-Reform skizziert, wie der "Spiegel" zuerst berichtete. Dem SPD-Präsidium präsentierte Pistorius Pläne, wie der Personalaufwuchs der Bundeswehr gelingen soll. So viel vorweg: Von dem, was sich der Minister der klaren Worte wohl ursprünglich vorgestellt hatte, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Eine Rückkehr zur klassischen Wehrpflicht hatte Pistorius nie im Sinn. Aber eigentlich wollte er drei Wehrdienst-Varianten vorstellen. Eigentlich.
Hätte Boris Pistorius es besser wissen müssen?
Der Plan, der ihm nun vorschwebt, beruht im Wesentlichen auf Freiwilligkeit. Von einer verpflichtenden Musterung etwa ist offenbar keine Rede mehr. So sollen junge Menschen zum Beispiel mit der Aussicht auf einen kostenlosen Führerschein zur Truppe gelockt werden. In einer Art Fragebogen, der an alle 18-Jährigen verschickt werden könnte, würde demnach abgeklopft, wie fit sie sind. Und ob sie grundsätzlich Interesse an einer Bundeswehr-Karriere hätten. Rekrutierung nach der Devise: Alles kann, nichts muss.
Das mag schön und gut klingen, nur nicht so dringlich, wie es Pistorius in den vergangenen Monaten immer wieder formuliert hatte: Als Konsequenz der "Zeitenwende", die keinen Aufschub duldet. Und schon gar keine halben Sachen.
Der Beliebtheitsminister der Deutschen, die ihn für Klartext und Tatendrang in den Himmel lobten, bleibt damit hinter den Erwartungen zurück, wohl auch hinter den eigenen. Seine friedensbewegte Partei hat ihm praktisch keine andere Wahl gelassen. Plötzlich steht der Minister mit dem Macher-Image als Ankündigungsweltmeister da, der Worthülsen verschießt und bei Widerstand gleich kapituliert – so jedenfalls spottet bereits die Opposition.
Hätte er es besser wissen müssen? Hat Pistorius dieses Mal zu hoch gepokert?

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Die Debatte um ein mögliches Comeback der Wehrpflicht läuft nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Schon in den Jahren zuvor hatte unter anderem die damalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer für ein soziales Pflichtjahr für alle jungen Deutschen geworben: bei Feuerwehr, Rettungsdienst – oder eben als Wehrdienstleistende bei der Bundeswehr.
Ein Dienst an der Gesellschaft – das war lange das Argument der Befürworter jeglicher Varianten eines Pflichtjahres. Auch bei der SPD gab es damals Sympathien für ein verpflichtendes soziales Dienstjahr. Betonung auf: soziales.
Was tun, wenn der Russe kommt?
Mit der "Zeitenwende" hat sich der Fokus der Debatte verschoben. Der Wehrdienst wird seitdem nicht mehr im Kontext eines Dienstes an der Gesellschaft diskutiert, sondern in seinem ursprünglichen Sinne: Was tun, wenn der Russe kommt?
Der Bundeswahr mangelt es nicht nur an Munition und sonstigem Material. Es fehlt vor allem auch an Personal. Demnächst könnte die Zahl der Soldaten unter die Schwelle von 180.000 fallen. Tausende Unteroffizier- und Offizier-Dienstposten sind nicht besetzt. Dabei soll die Truppe eigentlich größer werden. Das erklärte Ziel für 2031: 203.000 Soldaten.
Über Monate hat Pistorius den Eindruck erweckt, dass eine neue Variante des Wehrdienstes helfen könne, das Personalproblem zu lindern. Wenn erst einmal wieder mehr junge Menschen in Kontakt mit der Bundeswehr kämen, so die Argumentation, werde es einfacher, einige davon für eine Laufbahn zu begeistern.
Kritiker hingegen monierten stets, dass es selbst bei einer Schmalspur-Variante der Wehrpflicht ein kaum zu rechtfertigender Aufwand sei, die dafür notwendigen Strukturen aufzubauen. Und dass die Bundeswehr gar kein allgemeines Nachwuchsproblem habe, sondern ein sehr spezielles. Es fehlt nicht an jungen Menschen für die kämpfende Truppe. Es fehlt, wie überall im Staatsdienst, an hochqualifiziertem Nachwuchs, etwa im IT-Bereich. Und den Kampf um die klügsten Köpfe des Landes, so der mahnende Einwurf vieler Experten, gewinnt man nicht mit einer neuen Variante des alten Konzepts.
Pistorius kannte all die Argumente, klar. Am Ende aber waren es nicht in erster Linie die fachlichen Bedenken, die den Minister zurückhielten. Am Ende waren es seine Partei, die SPD, und ein Mann, als dessen möglicher Nachfolger Pistorius zuletzt immer mal wieder gehandelt wurde.
Der Verteidigungsminister war stets bemüht, die SPD auf seinen Kurs einzuschwören. Ist sogar mal zum Mittagstisch der Parteilinken gegangen, wo – vorsichtig ausgedrückt – nicht die größten Fans von ihm sitzen. Das habe ihn zwar nicht sehr beliebt gemacht. Aber nach dem Mund geredet habe er auch keinem, hieß es durchaus anerkennend.
Nur muss Deutschland wirklich "kriegstüchtig" werden – und nicht vielmehr "verteidigungsfähig"? Die pointierte, bisweilen martialische Rhetorik des Verteidigungsministers wollen sich viele in Partei nicht zu eigen machen, zumal nicht in der heißen Wahlkampfphase. Zur Europawahl plakatieren die Genossen: "Frieden sichern – SPD wählen". Zu diesem Versprechen will eine Debatte um eine neue Form der Wehrpflicht nicht so recht passen. Pistorius wollte seine Überlegungen eigentlich schon im Mai der Öffentlichkeit präsentieren. Doch er fügte sich, Wahlkampf geht schließlich vor. So schob er die Vorstellung auf einen unbestimmten Zeitpunkt nach der Europawahl.
Führende SPD-Politiker haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ein freiwilliges Modell bevorzugen. Zuletzt ist auch Olaf Scholz auf die Bremse getreten. Der Kanzler hat Pistorius‘ Pläne noch vor ihrer Präsentation kleingeredet, und damit im Grunde genommen den ambitionierten Verteidigungsminister selbst. Bei einem Besuch in Stockholm erklärte Scholz den Personalmangel zur "überschaubaren Aufgabe" und ließ durchblicken, was er von einer Verpflichtung zu einem Wehrdienst hält: wenig.
Es wird nicht leichter für den Beliebtheitsminister
Nachdem Pistorius seine Ideen präsentiert hatte, trat Generalsekretär Kevin Kühnert in der SPD-Zentrale vor die Kameras. Die Personallücke von rund 20.000 Soldatinnen und Soldaten nannte er ein "veritables Problem". Jedoch seien "attraktive Arbeitgeber" in der Lage, "auf einem freien Arbeitsmarkt auch Menschen freiwillig für sich zu begeistern".
Nebenbei räumte der Generalsekretär noch kursierende Fantasien ab, die SPD könne doch den beliebten Pistorius für den unbeliebten Scholz als Kanzler einwechseln. Kühnert zog den angeblichen Reservekanzler höchst selbst als Kronzeugen heran. Pistorius hatte Scholz kürzlich als "hervorragenden Kanzler" bezeichnet, der selbstverständlich auch der nächste Kanzlerkandidat sei.
Man darf Pistorius die Ambitionslosigkeit mit Blick aufs Kanzleramt durchaus abnehmen. Er hat ohnehin handfestere Probleme. Mit finanziellen Zulagen will er Soldatinnen und Soldaten für einen dauerhaften Einsatz in Litauen motivieren. Doch nun wackelt offenbar die Finanzierung. Der nächste Rückschlag kommt bestimmt. Dann wird Pistorius erneut beantworten müssen, wie viel Spaß ihm der Job wirklich noch macht.