Christian Wulff "Freiheit und Sozialismus"

Ein Mann denkt um: Die SPD ist toll und Angela Merkel spitze. CDU-Vize Christian Wulff über Chancen und Gefahren der Großen Koalition - und die größere Macht der Ministerpräsidenten.

Herr Wulff, Sie sind auf dem absteigenden Ast. Ihr Platz als beliebtester Politiker ist futsch.

Stimmt. Aber ich habe schon vor Monaten meiner Tochter erklärt, worin der Nachteil von Platz eins besteht: Danach kann es nur noch abwärts gehen. Daher gebe ich jetzt den Spitzenplatz gerne ab.

An Matthias Platzeck, den SPD-Chef.

Mir wäre es lieber gewesen, wenn es meine Vorsitzende gewesen wäre.

Was hat Platzeck, was Sie nicht haben?

Ich konzentriere mich auf Niedersachsen, er operiert jetzt bundesweit. Das macht es für ihn leichter, nach oben zu kommen und dort zu bleiben.

Fürchten Sie, dass Angela Merkel auch noch an Ihnen vorbeizieht?

Das würde mich sogar freuen. Wie sagt man in Köln: Man muss auch "jönne könne".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Kanzlerin hat sich in der Regierungserklärung auf Adenauer und Brandt bezogen. Nix Kohl, kein Erhard. Erschüttert?

Nein. Das war ein Signal für die Koalition, die sie führt. Sie bindet damit die SPD ein, die ja auch Beiträge zur Entwicklung Deutschlands geleistet hat.

Musste sie deshalb Gerhard Schröder überschwänglich loben, der entschlossen die Tür zu Reformen aufgestoßen habe? Vor der Wahl hat sie das Gegenteil gesagt.

Wir sollten die Regierungserklärung nicht bis ins Detail analysieren. Mit den Kurzformeln des Wahlkampfs trifft man einerseits nicht immer die Wahrheit. Wer das Amt erreicht hat, greift andererseits gerne zum Weichzeichner.

"Mehr Freiheit wagen", heißt Merkels Kernbotschaft. Genau gesagt, was sie damit meint, hat sie nicht. Können Sie's?

Der Staat muss Bühnen bauen, auf denen die Bürger mehr selbst machen können. Dass sie gestalten, entscheiden können. Der Gründerphase der 50er Jahre lassen wir eine zweite folgen. Das Beste am Koalitionsvertrag ist daher der geplante Rückbau an gängelnder ideologischer Bürokratie.

Da hätten Sie mit dem alten Slogan "Freiheit statt Sozialismus" antreten können.

Für die Große Koalition heißt es jetzt "Freiheit und Sozialismus".

Neben der Freiheit ist die Reform des Föderalismus das zweite große Projekt von Schwarz-Rot. Ohne Änderung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern ist das so sinnvoll wie ein Auto ohne Räder.

Dem stimme ich zu, im Prinzip. Aber leider waren für den ersten Schritt der Verfassungsreform von Anfang an zwei Dinge ausgeschlossen: die Verringerung der Zahl der Länder und eine Änderung der Finanzverfassung. Das muss jetzt im zweiten Schritt passieren.

Wann? Am St. Nimmerleinstag?

Ich wünsche mir, dass die CDU/FDP-Regierungen, die für die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gebraucht werden, sich hier einmischen. Da wird die FDP etwas bewirken, indem sie Druck ausübt, die Neugliederung der Bundesländer in einer zweiten Verfassungs-reform zu erleichtern. Unabhängig davon brauchen wir einen nationalen Entschuldungspakt, der festlegt, wie viel Schulden in den nächsten Jahren weniger gemacht werden müssen.

Bei Bund, Ländern, Gemeinden?

Auf allen drei Ebenen. Mit den Kreditlinien müssen die Beteiligten auskommen. Wer das nicht schafft, muss sich für Abweichungen eine Zweidrittelmehrheit im zuständigen Parlament holen oder stärker sparen.

Ist das auch Ihr Koalitionsvertrag, mit dem Schwarz-Rot in Berlin regiert?

Ich habe ihn mit ausgehandelt, also ist es auch mein Vertrag, den ich guten Gewissens unterzeichnen konnte. Natürlich hätte ich mir mehr gewünscht: beim Schuldenabbau, bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme, bei der Energiepolitik, bei der Flexibilisierung des Tarifrechts hin zu betrieblichen Bündnissen für Arbeit.

Eine ziemlich lange Wunschliste.

Mehr war derzeit bei der SPD nicht durchsetzbar.

Wie stark fühlen Sie sich Angela Merkel und ihrer Regierung verpflichtet?

Sehr stark. Als einer ihrer Stellvertreter in der CDU weiß ich, was sie sich wünscht.

Was denn?

Was ich von meinen Stellvertretern als Parteichef in Niedersachsen auch erwarte: Solidarität, Loyalität. Dass man gestützt wird, dass man getragen wird, dass man mit Kritik intern konfrontiert wird und nicht über die Medien. Darüber hinaus müssen die Länder wissen, dass sie in einem Geleitzug mit 16 Waggons unterwegs sind. Daher haben wir die Lokführer Merkel und Müntefering zu unterstützen, damit wir alle zusammen schneller und endlich in die richtige Richtung fahren.

Und laut nach anderer Weichenstellung rufen, wenn es dem Abgrund entgegengeht?

Richtig. Das muss dann den Lokführern eindeutig signalisiert werden in den Gremien, in denen wir mit ihnen zusammensitzen. Jeder Ministerpräsident muss wissen, dass er auch Verantwortung trägt für ganz Deutschland, sich nicht in seinem Land einkuscheln kann nach dem Motto: Ist mir doch egal, wenn die in Berlin Mist bauen. Unser Erfolg ist eng geknüpft an den Erfolg der Bundespolitik.

Das heißt, dass die Kanzlerin auf die volle Unterstützung der Unions-Ministerpräsidenten fest vertrauen kann?

Das heißt, dass wir in Zukunft für Entscheidungen von Union und SPD auf Bundesebene in die Pflicht genommen werden. Tragen wir sie nicht mit, werden wir der Illoyalität bezichtigt. Das bedeutet: Unsere Einflussnahme ist aus dem Vermittlungsausschuss vorverlagert ins Parteipräsidium, in den Bundesvorstand, dort müssen wir hellwach unseren Einfluss geltend machen. Diese Gremien werden künftig die Schaltstellen der Politik von Union und SPD sein. Dort werden Entscheidungen der deutschen Politik fallen, weil dort die Fraktionen und Länder zusammenkommen.

Das klingt nach Gängelband für die Kanzlerin. Jedenfalls nicht nach Generalvollmacht der Ministerpräsidenten.

Die dürfen wir verfassungsrechtlich gar nicht geben. Ich würde ja in Teufels Küche kommen, wenn ich nicht nach der Devise verfahren würde: Erst das Land, dann die Partei. Einen Persilschein für eine Bundesregierung und eine gewisse Zeit darf ich als Ministerpräsident von Niedersachsen nicht ausstellen. Ich muss in jedem einzelnen Fall prüfen: Dient das Deutschland, aber auch Niedersachsen?

Damit kann Angela Merkel die Sache mit dem "Durchregieren" vergessen?

Die Koalition hat eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und 36 Stimmen im Bundesrat. Diese Mehrheit werden wir nutzen, so habe ich das Wort vom Durchregieren verstanden. Ich hoffe, dass die FDP die CDU/FDP-Ministerpräsidenten nicht zur Enthaltung zwingt und so zu zahnlosen Tigern macht.

Sie könnten sich hinter Ihrem Koalitionspartner FDP verstecken. Die sagen dann nein zu etwas, was Sie nicht wollen.

Ich bin keiner, der sich in die Büsche schlägt.

Wo ist im Koalitionsvertrag eigentlich die CDU-Handschrift sichtbar außer bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer?

Wir haben viel erreicht für kleine und mittlere Betriebe, für Familien und Forschung. Und zur Mehrwertsteuer: Die SPD hatte null vorgesehen, zwei Prozentpunkte bekämpft und dann drei akzeptiert! Da sind wir glaubwürdiger. Und um zwei Prozentpunkte werden die Arbeitskosten gesenkt.

Dafür schluckt die Union die Reichensteuer.

Das war eine bittere Pille. Vor allem der Begriff diffamiert und ist inakzeptabel. Aber weil alle Opfer bringen müssen, konnte ich den speziellen Solidarbeitrag der Spitzenverdiener akzeptieren, quasi als Schlussstein in einem Gesamtpuzzle.

War es klug von der Kanzlerin einzugestehen, momentan nur "kleine Schritte" zu gehen?

Wir müssen uns damit trösten, dass bei der jetzigen Mehrheit im Parlament kleine Schritte in die richtige Richtung mit breiter Mehrheit vielleicht mehr verändern als ein großer Schritt im politischen Kampf gegen eine starke Opposition. Ich vergleiche das mit einem Skispringer, der einen weiten Sprung nicht stehen kann. Also: Lieber kürzer springen und mit Bestnote stehen als auf dem Allerwertesten landen.

Wann würden Sie die Koalition als richtig erfolgreich bezeichnen?

Wenn es den Menschen 2009 besser geht als heute. Wenn die soziale Sicherung gewährleistet ist. Wenn die deutsche Wirtschaft in allen Teilen erstarkt ist. Wenn die Bedingungen für Familien und Kinder verbessert sind, wenn der Staat von Bürokratie und Regulierung befreit und auf seine Kernaufgaben konzentriert ist.

Ihr hessischer Kollege Roland Koch sieht keine Chance für einen solchen "großen Wurf"?

2009 werden wir um Mehrheiten für große Würfe kämpfen. Ich plädiere dafür, zum Beginn der Koalition ins Gelingen verliebt zu sein und nicht übers Scheitern zu spekulieren.

Und deshalb freuen Sie sich, wenn im Bundestag eine Rede des SPD-Chefs von Ihren Leuten begeistert beklatscht wird?

Ich freue mich darüber, dass Landtagswahlen künftig keine Ersatz-Bundestagswahlen mehr sein werden. Jetzt geht es wirklich um das jeweilige Land, um den Spitzenkandidaten und die Landespolitik.

Was ist dann der niedersächsische Oppositionsführer Wolfgang Jüttner für Sie: alter Gegner oder neuer Freund?

In der Bundespolitik ist er ein Partner, im Land mein Konkurrent.

Ein bisschen schizophren.

Hm. Ich kann gut trennen.

Haben Sie einen Lieblingssozi?

Der ist mir gerade abhanden gekommen, Henning Scherf...

...der langjährige Bremer Bürgermeister. Nur ein abgedankter Sozi ist ein guter Sozi?

Ich komme auch gut mit Matthias Platzeck aus und mit Außenminister Steinmeier. Wir sind uns bei den Koalitionsgesprächen ja menschlich näher gekommen. Uns hat die gemeinsame Verantwortung für unser Land geeint - und dieser Verantwortung sind wir gemeinsam nachgekommen.

Stoiber nicht. Er hat gekniffen vor Berlin.

Edmund Stoiber hat erkennen müssen, dass der Spagat zwischen München und Berlin nicht zu schaffen war. Und er wird sich selber vorwerfen, dass er sich zu spät zwischen Berlin und München entschieden hat. Aber nun hat er sich entschieden.

Stärkt die Große Koalition die Radikalen?

Die Gefahr besteht, deswegen ist die Große Koalition zum Erfolg verdammt. Beide großen Parteien könnten auf jeweils 30 Prozent abrutschen, wenn wegen der ständig notwendigen Kompromisse Konturen verloren gehen. Gefährlich wird es aber auch, wenn einer der beiden Partner bei den kommenden Landtagswahlen entweder stark profitiert oder einer großen Schaden nimmt.

Wie will die CDU in der Koalition ihr Profil als konservative Volkspartei bewahren?

Die CDU muss ihre programmatische Arbeit und ihre Schlagkraft als Partei verbessern. Und die CDU/FDP-regierten Länder müssen besonders erfolgreiche Politik machen. Dann können wir 2009 sagen: Schaut nach Baden-Württemberg, nach Nordrhein-Westfalen, nach Niedersachsen, wo die CDU mit der FDP regiert.

Das heißt, das CDU-Profil wird hauptsächlich durch die Länder und ihre Ministerpräsidenten bestimmt?

Ja, vor allem durch die mit absoluten Mehrheiten von Hamburg bis Bayern. Und natürlich durch das Parteipräsidium und den Generalsekretär.

Ist es sinnvoll, dass die Kanzlerin einer Großen Koalition auch CDU-Vorsitzende ist? Kiesinger war das nicht.

Dazu sage ich: Toll, dass das in einer Hand liegt. Wir machen das in Niedersachsen so, und es spricht alles dafür, es auch im Bund so zu machen.

Stimmen Sie der These zu, dass die stellvertretenden Vorsitzenden wichtiger geworden sind?

Ja, wir können bei Auftritten in Vertretung von Angela Merkel das Profil der Union unverwechselbarer machen. Wir müssen aus den Ländern heraus weniger Rücksicht auf die SPD nehmen. Die SPD-Ministerpräsidenten und ihr Generalsekretär Heil langen ja auch schon recht grob hin. Da sage ich: Was die können, können wir schon lange.

Tut's eigentlich noch weh?

Was, bitte?

Das Ergebnis vom 18. September. Hat das Angela Merkel allein der CDU eingebrockt?

Wir haben alles gemeinsam besprochen, alles gemeinsam entschieden. Da gewinnt man gemeinsam, diesmal unter unseren Erwartungen. Wir haben zwar gewonnen, aber mit einem schlechten Ergebnis. Ich glaube, wir haben nicht genug Verheißungen gegeben, nur über Belastungen gesprochen. Der Wahlkampf war zu nüchtern.

Glauben Sie, dass es jemals wieder einen so genannten ehrlichen Wahlkampf geben wird?

Ich hoffe sehr. Es hat nicht an der Ehrlichkeit im Wahlkampf gelegen, sondern an der fehlenden argumentativen Schlagkraft, an den Überraschungsmomenten.

Halten Sie es für möglich, dass viele Wähler eine Frau als Kanzler abgelehnt haben?

Es mag einige geben, die sich eine Frau im Kanzleramt nicht vorstellen konnten. Aber das wurde aufgewogen durch Wähler, die speziell eine Frau wollten. Das Geschlecht darf letztlich keine Rolle spielen.

Ihr Parteifreund Koch sagt: "Angela Merkel muss erst noch das Vertrauen der Deutschen gewinnen, indem sie weiß, was sie will, und macht, was sie sagt."

Angela Merkel hat mit der Regierungserklärung deutlich gemacht, dass Verlässlichkeit und Ehrlichkeit die Grundlage sind, um Vertrauen zurückzugewinnen, dass wir Optimismus brauchen und Mut zu den auch unpopulären, aber notwendigen Entscheidungen.

Puh. Das klingt verdächtig nach Franz Müntefering: "Jetzt ist sie es, jetzt muss sie es auch können."

Angela Merkel kann es und wird den Moment erleben, den ich erlebt habe: dass vieles einfacher ist, sobald man regiert.

Interview: Andreas Hoidn-Borchers/ Hans Peter Schütz

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