Der Holzvogel fällt mit dem 42. Schuss. Die Menschenmenge auf der Festwiese jubelt. Die Kanonen böllern. Und ein Traum wird wahr für einen Mann, der in seiner Karriere schon alles erreicht hat. Fast alles.
Christoph Heusgen, 68, war außenpolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Er hat Deutschland als Botschafter bei den Vereinten Nationen vertreten. Lange galt er als eine Art Nebenaußenminister der Bundesregierung. Inzwischen leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz, das alljährliche Hochamt der Außen- und Sicherheitspolitik. Ein Mann, der weiß, wie man Krisen abwendet und Beziehungen pflegt. Für den es Alltag ist, von Spitzendiplomaten, Außenministerinnen und gekrönten Häuptern umgeben zu sein.
Am Dienstagabend, um 18:42 Uhr, setzte Heusgen sich selbst die Krone auf. Mit einem präzisen Schuss aus der Flinte, Einzellader, Kaliber 16, entschied er den Wettbewerb an der Vogelstange gegen einen Mitbewerber zu seinen Gunsten. Jetzt ist er Schützenkönig seiner Heimatstadt Neuss: seine Majestät Christoph II.
Christoph Heusgen: "Ein Moment, in dem ein Jugendtraum realisiert wurde"
"Der Moment, als eben der Vogel fiel, war ein ganz besonderer Moment. Ein Moment, in dem ein Jugendtraum realisiert wurde", sagte Heusgen, der in diesem Jahr zum 50. Mal beim Schützenfest dabei ist. "Dass man anschließend hier mit euch feiert, das ist das Schönste, was es gibt", sprach der neue König zu seinem Volk. Er habe weltweit ja viele Feste erlebt, aber das in Neuss sei das "großartigste".
Dem Fest in seiner Heimatstadt, mit knapp 7600 Schützen und Musikern eines der größten in Europa, ist Heusgen bei all seinen beruflichen Stationen immer verbundenen geblieben. Wo er auch war, immer am letzten Wochenende im August zog es ihn zurück in die Stadt bei Düsseldorf. Das musste auch Angela Merkel einsehen. Die Kanzlerin, so erzählte man sich in Berlin, schien nicht wirklich nachvollziehen zu können, warum sie eine Zeit lang gleich drei ihrer Spitzenkräfte für vier Tage ans rheinische Brauchtum ausleihen musste. Auch Hermann Gröhe, Ex-Gesundheitsminister und davor Staatsminister im Kanzleramt, und Johannes Geismann, ehemaliger Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes, sind in Neuss aufgewachsen – und begeisterte Schützen.
Glückwünsche für den neuen König Heusgen kamen am Dienstag auch sofort von der FDP. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai marschiert ebenfalls seit Jahren in Neuss mit. "Ich freue mich sehr für ihn", sagte er dem stern. "Eine großartige Persönlichkeit, die die Werte des Bürger-Schützenfestes verkörpert: heimatverbunden, weltoffen und tolerant."
Immer wieder lotste er Botschafter zum Neusser Fest
Nicht immer wurden Heusgens Freud und Lust auf Kirmes, wie die Neusser sagen, mit unbeschwerten Tagen belohnt. 2013 zum Beispiel rief ihn kurz vor der "Parade", dem Höhepunkt des Festes, US-Sicherheitsberaterin Susan Rice an. Sie wolle ihn vorwarnen, erklärte sie, Obama werde in den nächsten Stunden in Syrien militärisch intervenieren. Sofort unterrichtete Heusgen die Kanzlerin, er telefonierte und telefonierte, versuchte Schützenfest und Krisendiplomatie zu verbinden – es klappte nicht. Er flog zurück nach Berlin.

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In anderen Jahren gelang es Heusgen wiederum, den rheinischen Frohsinn mit einflussreichen Gesprächspartnern aus Berlin zu teilen. Immer wieder lotste er Botschafter als Ehrengäste zum Neusser Fest: Briten, Franzosen und US-Amerikaner. Einmal kam sogar der chinesische Botschafter. Und mit manchem hat sich dadurch eine enge Freundschaft entwickelt. Zu Heusgen, und auch zu Neuss. Der frühere US-Botschafter Phil Murphy zum Beispiel, heute Gouverneur von New Jersey, schwärmt bis heute von seinen Besuchen am Rhein.
Warum Heusgen sich immer wieder die Mühe machte, prominente Gäste in seine Heimat zu holen? "Solche Freundschaften sind im diplomatischen Geschäft Gold wert, denn sie garantieren, dass auch in stürmischen Zeiten Kontakte aufrechterhalten bleiben, sich nie Sprachlosigkeit entwickelt und man sicher sein kann, dass Vertrauliches vertraulich bleibt", schreibt er in seinem Buch "Führung und Verantwortung", das Anfang des Jahres erschienen ist.
Dem früheren Botschafter des Vereinigten Königreichs in Berlin, Simon McDonald, gefiel es sogar so gut, dass er ein Jahr später nach Neuss zurückkam, um als einfacher Schütze mitzufeiern. Ehrengast war da sein französischer Amtskollege Philippe Étienne. Und so ereignete sich eine Episode, über die sie in Neuss bis heute schmunzeln. Spontan schickten Étienne und McDonald eine diplomatische Note an Ex-Ehrengast und Neuss-Fan Phil Murphy: "Wo bleibst du?"
Heusgen will Neusser Schützenwesen für Frauen öffnen
Ganz ohne Politik wird Heusgen auch in seinem Königsjahr nicht auskommen. In seinem Hauptberuf als Chef der Sicherheitskonferenz beschäftigt ihn unter anderem eine mögliche zweite Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident. "Wir müssen uns warm anziehen", warnte er kürzlich im stern-Interview.
Als Schützenkönig wird sein diplomatisches Geschick in einer Debatte gefragt sein, die außerhalb der Stadtgrenzen von Neuss wohl niemand nachvollziehen kann. Es geht um die Frage, ob sich der Schützenverein nach 200 Jahren auch für Frauen öffnet. Ja, richtig gelesen: Bislang ist es hier das Privileg der Männer, einmal im Jahr durch die Stadt zu marschieren.
Heusgen hat bereits zu verstehen gegeben, dass er zu einem "inklusiven Ansatz" neige und das Neusser Schützenwesen für Frauen öffnen möchte.
Bleibt noch die Frage, wer im kommenden Jahr Christoph II. Heusgen zu Ehren als Gast nach Neuss kommt. Etwa die Altkanzlerin? Wohl kaum, hat der neue König schon abgewunken. Es sei ja schon schwer genug, sagte Heusgen, Angela Merkel zu überzeugen, nach München zur Sicherheitskonferenz zu kommen.
Merkels Nachfolger Olaf Scholz hingegen wird dann, ist ja quasi Tradition, wegen des Neusser Schützenfests auf eine bewährte Kraft verzichten müssen, in diesem Fall auf eine Diplomatin in seinen Diensten. Heusgens Frau, Königin Ina, arbeitet als Referatsleiterin im Kanzleramt.