Ein Jahr nach der Corona-Ansprache Vor Corona-Gipfel am Montag: Eigentlich müssten die Bremsscheiben jetzt schon glühen

Wichtige informationen über den AstraZeneca-Impfstoff
Wichtige informationen über den AstraZeneca-Impfstoff
Sehen sie im Video: Woran erkennt man die Nebenwirkungen? Arzt gibt wichtige Infos zum Astrazeneca-Impfstoff. Videoquelle: n-tv.de
Vor genau einem Jahr hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen eindringlichen Appell an die Deutschen gerichtet. Seitdem hat sich viel verändert, auch die Wahrnehmung der Corona-Lage. Was bedeutet das für den nächsten Bund-Länder-Gipfel?

Es ist nun genau ein Jahr her, als Bundeskanzlerin Angela Merkel das ganze Volk in die Pflicht genommen hat. "Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten", appellierte sie bei ihrer ersten und bislang einzigen Fernsehansprache aus aktuellem Anlass. "Angela Merkel, eindringlich wie nie", titelte der stern damals. Es war eine außergewöhnliche Rede in einer außergewöhnlichen Lage. 

Wenige Tage zuvor hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verbreitung des Coronavirus als weltweite Pandemie eingestuft, der "neuartige" Erreger wurde seinerzeit in inzwischen 115 Ländern festgestellt. Grenzen wurden geschlossen – ein Novum im freizügigen Europa – und Ausgangssperren verhängt. Erschütternde Bilder zeigten Militärlastwagen, die Särge aus dem italienischen Bergamo fuhren.

Italien, März 2020: Särge, die aus der Gegend von Bergamo eintreffen
Italien, März 2020: Särge, die aus der Gegend von Bergamo eintreffen, werden von Arbeitern in Schutzanzügen aus einem Militärfahrzeug in ein Gebäude des Friedhofs von Cinisello Balsamo getragen
© Claudio Furlan/LaPresse/AP / DPA

Wie mit dieser historischen Krise umgehen? Deutschland zog die Notbremse, das gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik sollte drastisch heruntergefahren werden – Schulen, Restaurants, Hotels, viele Geschäfte und sogar Spielplätze schlossen. "Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr", sagte die Kanzlerin damals in ihrer Ansprache, "bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." Bis zu diesem Zeitpunkt, diesem 18. März 2020, hatte das Virus zwölf Menschen in Deutschland getötet.

Nun, genau ein Jahr später, wird wieder über die Notbremse und Vorsichtsmaßnahmen diskutiert – bei Werten, die damals womöglich als dystopisches Schreckensszenario abgetan worden wären: Mehr als 74.000 Menschen sind allein in Deutschland am oder mit dem Virus verstorben, darüber hinaus registriert das Robert Koch-Institut (RKI) wieder täglich steigende Fallzahlen und einen Sieben-Tages-Inzidenzwert in Deutschland von 90 – übrigens ein Wert, der vor einem Jahr noch gar nicht erhoben wurde.

Keine Frage: Die Situation heute ist eine andere als damals, der direkte Vergleich hinkt. Es gibt Impfstoffe. Höhere Testkapazitäten. Schnell- und Selbsttests. Mehr Intensivbetten. Dennoch sollte man sich all das vergegenwärtigen. Es zeigt, wie sehr die Coronakrise mittlerweile Einzug in unser Leben gefunden und sich der politische wie gesellschaftliche Blick darauf gewandelt hat. 

Und dann noch auf die "Notbremse" treten?

Am kommenden Montag, am 22. März, werden sich Bund und Länder erneut über die Corona-Lage in Deutschland beugen. Die routinierte Runde will eigentlich über weitere Lockerungen sprechen. So steht es im zuletzt gefassten Beschluss, in dem sich die 16 Regierungschefinnen und -chefs mit der Bundesregierung auf stufenweise Öffnungen für Teilbereiche geeinigt hatten. Nun sollte "über weitere Öffnungsschritte und die Perspektive für die (im Beschluss) noch nicht benannten Bereiche" diskutiert werden. Vor drei Wochen ging man offensichtlich davon aus, dass sich die Lage entschärfen würde (entgegen der Mahnungen von Experten).

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Weitere Lockerungsmaßnahmen dürften angesichts der aktuellen Zahlen mindestens in Klammern stehen, wie es im politischen Berlin heißt – also für viele Diskussionen sorgen. Vielmehr dürfte ohnehin ein anderes Thema die Videoschalte prägen: die "Notbremse". Was vor einem Jahr noch in erster Linie aus dem Bahnabteil bekannt war, ist nun ein geflügeltes Wort für den zwischen Bund und Ländern vereinbarten Rückfallmechanismus, dem Vernehmen nach ein Zugeständnis an die Bundeskanzlerin. Die "Notbremse" soll bereits bestehende und weitere Lockerungen bei konstant steigenden Infiziertenzahlen wieder zurückschrauben.

Beschluss von Bund und Ländern, 3. März 2021
Der Beschluss von Bund und Ländern vom 3. März 2021

Öffnungsschritte, aber mit Notbremse – darauf hatten sich Bund und Länder geeinigt, wenngleich etwa Niedersachsen und Sachsen-Anhalt die Beschlüsse "als Orientierungsrahmen" verstanden wissen wollten, wie in der Fußnote ("Protokollerklärung") des 13-seitigen Papiers festgehalten wurde. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 soll sie gezogen werden, mit den Ländern im Fahrersitz. Bundesweit liegt der Wert mittlerweile bei 90, in zahlreichen Städten und Landkreisen wird die Marke schon gerissen (wie diese Übersicht des stern zeigt). 

Vielerorts ist daher eine Vollbremsung zu erwarten. Eigentlich. Denn weder ziehen alle Regionen und Städte mit, noch scheint Konsens über die Auslegung der Verkehrsregeln zu herrschen. 

  • In Brandenburg regelt die entsprechende Verordnung, dass Kreise und kreisfreie Städte bei einem Wert über 100 zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen sollen – also nicht müssen. Ab 200 müssen sie dann die jüngsten Lockerungen zurücknehmen. Der landesweite Inzidenzwert lag am Mittwoch bei 89, während etwa in der Landkreis Elbe-Elster bisher auf Einschränkungen verzichtet – trotz eines Werts von 198.
  • In Nordrhein-Westfalen überschreiten mehrere Kreise und kreisfreie Städte die Marke von 100, darunter die Millionenstadt Köln – den dritten Tag in Folge. Die Notbremse wurde aber nicht gezogen, am Freitag wolle man über das weitere Vorgehen informieren. Derweil wollen Dortmund (91,3) und Duisburg (122,7) ihre Kitas und Schulen schließen – allerdings gegen den Willen des Landes. Aktuell liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert in NRW bei 92,1.
  • In Hamburg, das am Mittwoch die 100er-Marke überschritten hat, bereitet der Senat die gesamte Stadt auf die Notbremse vor. "Einzelhandel, Museen, Galerien, Zoos und botanische Gärten müssen sich darauf einzustellen, dass die zuletzt vorgenommenen Öffnungsschritte in den nächsten Tagen zurückgenommen werden", sagte der Senatssprecher Marcel Schweitzer am Mittwoch. Die Bremse könnte schon am Freitag greifen.

Die Bundesregierung ist alarmiert. Der Beschluss vom 3. März müsse umgesetzt werden, appellierte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag, "nicht nur in seinen erfreulichen Passagen, sondern eben auch in seinen schwierigen." In einer ohnehin schwierigen Pandemie-Lage: Beim Start der Testkampagne ruckelt es gewaltig, die Impfungen laufen nur schleppend und verlieren durch den vorübergehenden Stopp des Astrazeneca-Impfstoffs zusätzlich an Schwung. Den Osterurlaub dürften viele schon abgeschrieben haben. Frust und Unzufriedenheit in der Bevölkerung wachsen. Und dann auch noch, beim ohnehin weitgehenden Stillstand des gesellschaftlichen Lebens, auf die (Not-)Bremse treten? 

Auch diesen Satz sagte die Kanzlerin

Nicht schön, aber notwendig – so lassen sich jedenfalls die Wortmeldungen von Experten lesen. Das RKI prognostiziert für die Woche nach Ostern höhere Neuinfektionszahlen als rund um Weihnachten, die Inzidenz könnte dann bei 350 liegen. Auch der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité befürchtet angesichts der sich zunehmend ausbreitenden Virusvariante B.1.1.7 diese Entwicklung und sagt, die Situation werde sich im weiteren Verlauf "drastisch erschweren".

Was frühzeitiges Handeln bewirken – oder verhindern – kann, prangert ein Thinktank aus Großbritannien an: Hätte die Johnson-Regierung den "Winter-Lockdown" nicht erst im Januar verhängt, hätten 27.000 Tote vermieden werden können. Die Entscheidung sei ein "riesiger Fehler" gewesen, zitiert der "Guardian" die Resolution Foundation am Donnerstag. Derweil kommt das Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass die jüngsten Lockerungen der Corona-Einschränkungen die Zahl der Neuinfektionen und der Todesfälle in Deutschland um ein Viertel erhöhen könnten. 

Wie wird der weitere Kurs im Kampf gegen die Krise aussehen? Darüber werden Bund und Länder am kommenden Montag beraten. Die Länderchefinnen und -chefs stehen erneut vor wegweisenden Entscheidungen. Vielleicht hilft auch hier die Erinnerung an einen Satz der Bundeskanzlerin. Vor genau einem Jahr, am 18. März 2020, sagte sie in ihrer Fernsehansprache: "Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist."

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