85. Jahrestag Das Gedenken an die Pogromnacht hat plötzlich bedrückende Realität

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin
© John MacDougall / AP / Picture Alliance
Sehen Sie im Video: Kanzler Scholz zutiefst beschämt über aktuellen Antisemitismus: "Es ist eine Schande".




Zum Gedenken an die Reichspogromnacht kamen am Donnerstagvormittag Vertreter aus der jüdischen Gemeinde, Regierungsmitglieder, Abgeordnete sowie der Bundeskanzler und der Bundespräsident in der Berliner Synagoge Beth Zion zusammen. Auch die Holocaust Überlebende Margot Friedländer nahm teil. Wegen der Entwicklungen im Nahen Osten liegt in diesem Jahr ein ganz besonderer Fokus auf dem Jahrestag. Seit dem Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel und den nachfolgenden israelischen Angriffen im Gazastreifen ist die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland deutlich gestiegen. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte dies: "Es ist eine Schande. Mich empört und beschämt das zutiefst." Scholz sagte, "etwas gerate aus den Fugen", wenn heute Gewalttaten der radikal-islamischen Hamas gefeiert und jüdische Mitbürger bedroht würden. Bundeskanzler Olaf Scholz: "Nichts, rein gar nichts. Keine Herkunft, keine politische Überzeugung, kein kultureller Hintergrund, kein angeblich postkolonialer Blick auf die Geschichte kann als Begründung herhalten, die Ermordung, das grausame Abschlachten Unschuldiger zu feiern. Und deshalb muss auch jeder wissen, Antisemitismus, wer das macht, riskiert auch aufenthaltsrechtlichen Status." Gleichzeitig warnte Scholz vor einem Generalverdacht gegen Muslime. Man dürfe nicht jenen auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance wittern, über fünf Millionen muslimischen Bürgerinnen und Bürgern pauschal den Platz in der deutschen Gesellschaft abzusprechen. Die Beth Zion Synagoge war eine von rund 1000 Synagogen landesweit, die in der Reichspogromnacht vor 85 Jahren zerstört wurde. Kurz nach dem gewaltsamen Angriff der Hamas auf Israel im Oktober wurde die Synagoge Ziel eines Anschlags mit einem Molotow-Cocktail, der allerdings nicht explodierte.
In einer Berliner Synagoge gedenkt der Zentralrat der Juden der Reichspogromnacht vor 85 Jahren. Auch Kanzler Olaf Scholz setzt ein Zeichen. 

"Mehr als 1000 Ermordete. Verwüstung und Brandschatzung. Familien – brutal auseinandergerissen. Ich könnte hier vom 9. November 1938 sprechen – der Reichspogromnacht", so beginnt der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, seine Rede bei der zentralen Gedenkfeier zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht. "Ich könnte aber auch vom Pogrom unserer Zeit sprechen; vom grausamen Terror der Hamas des 7. Oktober 2023. Die Beschreibungen gleichen sich."

In der Nacht vom 9. November 1938 begannen die Nationalsozialisten landesweit eine Gewaltwelle gegen Juden, die schließlich im Holocaust, der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, mündete. Das Gedenken an diese Nacht hat an diesem Donnerstag, 85 Jahre später, eine erdrückende Aktualität, das ist vielen der Gäste in der Berliner Synagoge Beth Zion anzusehen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz sind geladen, der israelische Botschafter Ron Prosor, die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer und Angehörige von Geiseln der Hamas im Gazastreifen. 

Schon das Gebäude, in welches der Zentralrat der Juden geladen hat, zeugt davon: In der Reichspogromnacht plünderten und verwüsteten Nationalsozialisten die Synagoge in der Brunnenstraße im Zentrum Berlins. 85 Jahre später, nur wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Jüdinnen und Juden in Israel, warfen Vermummte Molotow-Cocktails auf das Gebäude.  

Schuster: "Es ist etwas aus den Fugen geraten"

Wieder haben Jüdinnen und Juden Angst in dem Land, in dem eigentlich das "Nie wieder" gelten soll. Auch der Kanzler nimmt diese Bedrohung auf, verurteilt in seiner Rede Hass gegen Juden als "Schande". Ihn empöre und beschäme das zutiefst, so Scholz.  

Schuster fasst die Situation in Deutschland mit dem Satz zusammen: "Es ist etwas aus den Fugen geraten." Scholz stimmt dem zu: Wenn heute Türen und Wände mit Davidsternen beschmiert, Terroristen der Hamas gefeiert und Brandsätze auf die Synagoge in der Brunnenstraße geworfen würden, gerate in der Tat etwas aus den Fugen.  

Was tun? Man müsse sich eingestehen, dass Antisemitismus in den letzten Jahren "hinter vorgehaltener Hand" bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sei, sagt Schuster. Er verweist auf "eine Parallele in der Geisteshaltung" bei radikalen Islamisten und Rechtsextremen und geißelt auch die Verachtung für Lehren aus der Geschichte, die er bei linksextremen und linken Kreisen spüre. 

Schuster würdigt zwar, dass heute anders als vor 85 Jahren jüdisches Leben in Deutschland geschützt werde. Er betont aber auch, dass man nicht hinter "Schutzschildern" leben wolle. "Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land, frei leben in dieser offenen Gesellschaft". Diesen Wunsch habe er – und den werde er sich nicht nehmen lassen. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Olaf Scholz weicht vom Redemanuskript ab

Für Scholz geht es neben dem Schutz jüdischer Einrichtungen darum, dass Polizei und Justiz geltendes Recht durchsetzten. Auch müsse die Einsicht in Deutschlands historische Verantwortung weitergegeben werden, "in Schulen, Universitäten, in der Ausbildung, in Integrationskursen, im tagtäglichen Leben" – damit im Einwanderungsland Deutschland auch jene erreicht würden, "in deren Herkunftsländern über die Shoah nicht oder vollkommen anders gesprochen wird". 

Scholz ist wichtig zu signalisieren, dass seine Regierung politisch vorangehe. Er verweist darauf, dass die Regierung mit einem geplanten neuen Staatsangehörigkeitsrecht "ganz klar" regele, "dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht". Als wolle er seinen Einsatz noch einmal akzentuieren, weicht der Kanzler sogar vom vorbereiteten Redemanuskript ab, was für ihn eher unüblich ist. Es sei wichtig, fügt Scholz hinzu, dass man in dem, was man tue, konsequent sei. "Deshalb muss auch jeder wissen: Antisemitismus, wer das macht, riskiert auch seinen aufenthaltsrechtlichen Status." Es klingt fast wie eine Warnung. 

Noch eine Botschaft hat Scholz mitgebracht: Er warnt vor einem Generalverdacht gegen Muslime. Man dürfe nicht jenen "auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance wittern, über fünf Millionen muslimische Bürgerinnen und Bürgern pauschal den Platz in unserer Gesellschaft abzusprechen", sagt der Kanzler. 

DPA · AFP