Was geschieht, wenn das Referendum in Frankreich scheitert?
Wissmann Es ist jetzt noch nicht die Zeit, einen "Plan B" zu erörtern. Jetzt müssen wir alles tun, um die Stimmung ins Positive zu wenden und das Referendum zu einem Erfolg zu führen. Klar ist jedoch: Wenn die Menschen in den heutigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht das Gefühl haben, dass sich die Regierungen erst einmal mit aller Kraft darauf konzentrieren, den vorhandenen 25-Staaten-Bereich, vielleicht bald 27-Staaten-Bereich, zu integrieren, dann verlieren sie das Vertrauen.
Wenn man gleichzeitig fröhlich weitermacht mit Erweiterungsmusik in Richtung Türkei, in Richtung Balkanstaaten, vielleicht sogar in Richtung Marokko und Tunesien, dann verlieren auch noch so europäisch gesinnte Bürger das Vertrauen.
Im Rat der Regierungschefs hat noch nie eine Strategiediskussion über die Grenzen der Europäischen Union stattgefunden. Stattdessen wird von Fall zu Fall entschieden. Diese Erweiterungsstrategie ohne Sorgfalt birgt die Gefahr in sich, dass Europa langsam zerbröselt.
Zur Person
Seit 2002 ist der CDU-Politiker Matthias Wissmann (56) Vorsitzender des Bundestags-Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union. Im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl war Wissmann, der seit 1976 im Bundestag sitzt, zunächst Minister für Forschung und Technologie, dann Verkehrsminister. Der Jurist vertritt den Wahlkreis Ludwigsburg in Baden-Württemberg.
Die französische Linke kritisiert, die EU-Verfassung zementiere eine neoliberale Wirtschaftssicht, in Deutschland wettert SPD-Chef Müntefering ebenfalls gegen neoliberale Exzesse. Muss die EU-Verfassung sozialer gestaltet werden, um sie den Bürgern näher zu bringen?
Man muss den jetzigen Zustand mit dem möglichen Zustand des Verfassungsvertrags vergleichen. Letzterer enthält sehr viel mehr Elemente sozialer Marktwirtschaft.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
In welchen Punkten?
Es gibt den Teil mit den Grundrechten, der den Geist der sozialen Marktwirtschaft atmet, und den konkreten Teil der Verfassung, der das Modell einer sozialen Marktwirtschaft umreißt. Es ging den Autoren der Verfassung darum, das europäische Sozialstaatsmodell festzuschreiben, das eben nicht auf Milton Friedman fußt, sondern auf Ludwig Erhard.
In Frankreich herrscht Angst vor Billig-Arbeitern aus Osteuropa. Die Franzosen fürchten, dass Ihr Mindestlohn durch EU-Regeln unterlaufen wird. Wäre ein EU-weiter Mindestlohn für Sie eine Alternative, um den Bürgern die Ängste vor Europa zu nehmen?
Ich habe im Grunde kein Problem damit. Je mehr sie jedoch Mindestlöhne fixieren - in Deutschland würde das tarifvertraglich geschehen müssen, in anderen Ländern gesetzlich - desto mehr fördern sie die Schwarzarbeit. Zu glauben, die Einführung von Mindestlöhnen sei eine wirksame Therapie, halte ich für eine schöne Illusion. Ich bin da nicht ideologisch verbohrt. Allerdings ist es ein Irrtum, den Leuten den Eindruck zu vermitteln, dies sei eine Lösung.
Jacques Delors, der ehemalige Chef der EU-Kommission, hat einmal gesagt, einen Binnenmarkt könne man nicht lieben. Womit sollen sich die Bürger in Europa identifizieren - mit der Verfassung?
Verfassungen sind oft zu kalt, um geliebt zu werden. Ich glaube, am ehesten kann man den Bürgern die Europäische Union durch glaubwürdige Symbole näher bringen. Dazu gehören auch gemeinsame Verteidigungsanstrengungen - wie etwa das Bestreben, auf dem Balkan gemeinsam den Frieden zu sichern - oder die Zusammenlegung von Armeen in einem Kerneuropa - wie es im Eurokorps geschieht. Das sind Symbole, die zählen. Wenn die Menschen dann spüren, dass die Existenz der EU auch für sie persönlich Vorteile bringt, indem sie etwa durch freien Wettbewerb Güter und Dienstleistungen billiger erwerben können und damit Geld sparen, dann können wir ihnen Europa auch näher bringen.
Zu Kerneuropa: Fürchten sie, dass ein "Nein" der Franzosen jenen Kern der integrationswilligen Staaten spalten würde, von dem Sie eben gesprochen haben?
Das ist ja das Problem. Die Ablehnung eines Verfassungsvertrags in Frankreich wäre viel problematischer als in jedem anderen Land. Ein "Nein" würde Frankreich an die Peripherie der Europäischen Union führen - eigentlich gehört Frankreich in den Kern Europas. Wenn die Franzosen sich verabschieden, dann ist ein Kerneuropa schwer zu verwirklichen.
Wie viele Ihrer Kollegen aus der Fraktion der Union werden am 12. Mai im Bundestag gegen die EU-Verfassung stimmen?
Es wird eine Minderheit sein. Das sind diejenigen, die im Grunde genommen skeptisch sind gegenüber dem Integrationsprozess.
Ihre Parteichefin Angela Merkel hat gefordert, dass die Beitrittsverträge der EU mit Bulgarien und Rumänien nachverhandelt werden müssen. Teilen Sie diese Auffassung?
Wir müssen darauf achten, dass Rumänien und Bulgarien - und dabei vor allem Rumänien - die Regeln, die in der Europäischen Union gelten - den "Acquis Communitaire" - auch wirklich umsetzen. Im letzten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu Rumänien wird deutlich gesagt, dass das Land in den Bereichen Inneres und Justiz - vor allem bei der Korruptionsbekämpfung - die Ziele, die man gemeinsam festgelegt hat, nicht erreicht hat. Dazu gibt es eine zweite Sache, die sehr bedenklich ist. Die EU-Regierungen haben der Beitrittsakte eine Erklärung beigelegt, die eine zusätzliche Freizügigkeitsperspektive für die Arbeitnehmer aus beiden Ländern enthält. Ich hielte eine großzügige Öffnung Europas - insbesondere im Fall Rumäniens, wo über 30 Millionen Menschen leben - für sehr problematisch. Die Erfahrungen mit den Staaten Mittel- und Osteuropas haben gezeigt, dass wir mit Billigangeboten von Arbeitskräften sehr vorsichtig sein müssen.
Öffnen die derzeitigen Beitrittbedingungen für Rumänien und Bulgarien ein "Scheunentor" für Billigarbeiter?
Ja, und zwar insbesondere wegen dieser zusätzlichen Erklärung. Die Bundesregierung wettert gegen Sozialdumping und unterzeichnet gleichzeitig eine Erklärung, die auf mehr Freizügigkeit setzt. Das hier Nachverhandlungen gefordert werden, ist meiner Auffassung nach wirklich berechtigt.
Macht die Union jetzt Wahlkampf, indem sie Ängste vor der nächsten EU-Erweiterung schürt?
Die Tür für Rumänien und Bulgarien muss offen gehalten werden, aber es muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass keine Fehler begangen werden. Wenn man fröhlich mit der Erweiterung weitermacht, dann schürt man bei den Menschen Skepsis gegenüber dem europäischen Projekt. Die Politik, die diese Ängste nicht konkret anspricht, macht sich im Grunde genommen schuldig, weil sie dem Ressentiment Tür und Tor öffnet.
Wird hier nicht mit der Angst vor Fremden Politik gemacht?
Die Sorge der Bürger ist da. Und entweder wird sie an konkreten Beispielen angesprochen oder man redet sie weg. Ich bin der Meinung, man muss sie adressieren, man muss genau sagen: Hier und da muss aufgepasst werden. Am Montag letzter Woche eine Erklärung zu unterzeichnen, die Rumänien und Bulgarien zusätzliche Möglichkeiten der Arbeitnehmerfreundlichkeit anbietet, das ist wirklich ein Schindluderstreich. Die Bundesregierung kritisiert die europäische Dienstleistungsrichtlinie im Zusammenhang mit Sozialdumping, obwohl die Dienstleistungsrichtlinie noch gar nicht in Kraft ist. Wenige Tage später unterschreibt sie eine Erklärung, die zusätzliche Arbeitnehmerfreizügigkeit vorsieht. Das ist der Stein des Anstoßes.