Fall Kurnaz Steinmeier und die verflixten Puzzleteile

Puzzleteil für Puzzleteil entsteht im Fall Kurnaz ein Gesamtbild dessen, wie Rot-Grün mit dem Guantanamo-Häftling umgegangen ist. Es ist ein hässliches Bild. Im Jahr 2002 soll der BND auf Kurnaz' Freilassung gedrungen haben. Vergebens. Die Erklärungsnot des Außenministers wächst.

Es ist wie bei einem Puzzle, das sich langsam, ganz langsam zu einem Bild fügt, das jedoch immer deutlicher erkennbar wird. Jeden Tag kommen neue Details, Vermerke, Emails, Papiere zum Umgang der rot-grünen Regierung mit Murat Kurnaz ans Licht, mit jenem bremischen Türken, der zwischen 2002 und 2006 unschuldig im US-Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert war. Es ist ein hässliches Bild.

Ein neues Puzzle-Teil hat nun die "Berliner Zeitung" entdeckt. Sie berichtete am Donnerstag, dass Deutschland entgegen bisheriger Angaben der Bundesregierung die USA Ende September 2002 um eine Freilassung des Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz gebeten habe. Dies geht nach Angaben des Blattes aus bislang unbekannten Schreiben des Bundesnachrichtendienstes (BND) hervor. Die Unterlagen, die auf Ende September und Anfang Oktober 2002 datieren, seien anderem an das damals vom heutigen Außenminister Frank-Walter Steinmeier geleitete Bundeskanzleramt gerichtet gewesen, hieß es. Unklar sei jedoch, warum die Regierung von ihrem anfänglichen Wunsch, Kurnaz freizubekommen, später wieder abgerückt sei, nachdem die Amerikaner im Oktober 2002 auf die deutsche Bitte reagiert und eine Entlassung des Bremer Türken angeboten hätten.

Steinmeiers Erklärungsnot wächst

Die neuen Informationen könnten die Erklärungsnot verschärfen, in der sich Steinmeier ohnehin befindet. Sie fügen sich nahtlos ein in Puzzleteile, die der stern in den vergangenen Wochen und in seiner jüngsten Ausgabe veröffentlicht hat. Wie das Magazin mehrfach berichtete, traf am 29. Oktober 2002 im Kanzleramt in Berlin die so genannte "Präsidentenrunde" der Chefs der Geheimdienste zusammen - unter Steinmeiers Leitung. In dieser Runde wurde beschlossen, Kurnaz die Einreise nach Deutschland zu verweigern. In seiner jüngsten Ausgabe berichtete der stern zudem davon, dass sich der Leiter der US-Nachrichtendienste in München im November 2002 bei einem hochrangigen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) beschwerte, dass die Deutschen Kurnaz die Rückkehr in die Bundesrepublik verweigerten. "Im Fall Kurnaz hätte eine andere Entscheidung im Interesse der USA gelegen", schreibt daraufhin der BND-Mann an den damaligen Präsidenten seines Amtes, August Hanning.

"Meine Bitte wurde positiv aufgenommen"

Die "Berliner Zeitung" dokumentiert nun das Verhalten des Geheimdienstes BND vor dem Treffen im Kanzleramt. Konkret berichtet das Blatt Folgendes: Am 30. September 2002 - also knapp einen Monat vor besagter "Präsidentenrunde"- habe der Leiter der BND-Terrorismusreferats 55BB einen Vermerk über eine knappe Woche zuvor in Guantanamo erfolgte Vernehmung Kurnaz' durch deutsche Geheimdienst-Mitarbeiter angefertigt. Darin schreibe der BND-Beamte unter anderem: "Meine Bitte an die US-Seite, K(urnaz) möglichst bald frei zu lassen, um ihn evtl. zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland nutzen zu können, wurde offensichtlich positiv aufgenommen. Noch am letzten Tag unseres Aufenthaltes wurde uns gesagt, dass die Vorentscheidung gefallen sei, K. noch bis November dieses Jahres nach Deutschland zu bringen." Kurnaz habe als V-Mann in islamistische Kreise eingeschleust werden sollen. Eine fast wortgleiche Formulierung findet sich dem Bericht zufolge in einem BND-Schreiben vom 2. Oktober 2002 an das Kanzleramt. Verfasst worden sei dieses Papier von einem Mitarbeiter des BND-Leitungsstabs. Es sei an das zuständige Referat 605 im Kanzleramt gerichtet gewesen. Offen ist jedoch, ob die US-Vertreter die Möglichkeit, Kurnaz als V-Mann einzusetzen als Bedingung für seine Auslieferung begriffen. Bislang halten Verteidiger der rot-grünen Bundesregierung Kritikern entgegen, die Amerikaner hätten Bedingungen an dessen Freilassung geknüpft, die schwer zu erfüllen gewesen seien.

"Ist eine Rückkehr erwünscht"

Aber auch dazu hat die "Berliner Zeitung" Informationen. Sechs Tage nach dem ersten Dokument habe der BND-Leitungsstab ein weiteres Schreiben an die Geheimdienstabteilung im Kanzleramt geschickt, berichtet sie. Darin heiße es: "Nach Auskunft des US-Delegationsbegleiters gebe es aus Sicht des US-Hauptquartiers (?) aufgrund (?) der von der deutschen Delegation ausgesprochenen Freilassungsempfehlung gute Chancen, dass Kurnaz (?) eventuell schon im November 2002 freigelassen wird." Zumindest augenscheinlich klingt das nicht nach harten Bedingungen für eine Freilassung. Aus einem Vermerk des Verfassungsschutzes, der ebenfalls einen Mitarbeiter nach Guantanamo entsandt habe, gehe zudem hervor, dass die US-Offerte ernst zu nehmen war. In dem Schreiben vom 8. Oktober 2002 heiße es: "Vor dem Hintergrund der möglicherweise bald erfolgenden Freilassung des Kurnaz ist zu klären, ob Deutschland eine Rückkehr des türkischen Staatsbürgers überhaupt wünscht (?)". Sollte dies nicht der Fall sein, "müsste den USA signalisiert werden, dass eine Rückführung in die Türkei bevorzugt wird", berichtete die Zeitung weiter. Es war nicht erwünscht.

Berichte widerlegen den Außenminister

Die neuen Puzzleteile verschärfen die Erklärungsnot Steinmeiers. Wenn der BND eine Überstellung Kurnaz' befürwortet hat und wenn die USA dies ebenfalls goutiert haben, ist das für den Außenminister und SPD-Politiker doppelt problematisch. Erstens hat es dann Empfehlungen vom eigenen Dienst gegeben, gegen die sich die Führungsebene - und dazu gehörte er - gesträubt hat. Zweitens, wenn die USA ihre Zustimmung gegeben haben, ist die Behauptung Steinmeiers vom Dienstag dieser Woche nochmals widerlegt, dass es kein "offizielles" Angebot der USA gegeben habe, Kurnaz auszuliefern. Schon der Bericht im jüngsten stern hatte Steinmeier widerlegt.

Nun kommt es darauf an, welche Gründe der Außenminister dafür anführt, dass dieses Angebot der Amerikaner seiner Auffassung nach im Jahr 2002 nicht tragfähig war. Sowohl seine Kritiker als auch seine Unterstützer dringen auf eine schnelle Aussage Steinmeiers im Untersuchungssausschuss des Bundestages. Die könnte wohl frühestens am 1. März erfolgen. Aber selbst, wenn Steinmeier Zeifel an der Verlässlichkeit des US-Angebots schüren würde, so hat er ein weiteres, schwer wiegendes Problem: Zum Gesamtbild gehört mittlerweile auch, dass es Belege dafür gibt, dass die Bundesregierung aktiv versuchte, Kurnaz' Einreise zu verhindern, indem sie Behörden auf die Instrumente des Ausländerrechts verwies. Sie wollten ihn, so scheint es derzeit, einfach nicht in Deutschland haben, obwohl allen klar war, dass Kurnaz unschuldig war und obwohl allen klar war, dass Guantanamo einen Bruch des Völkerrechts markierte. Das ist der Skandal.

Um dieses Bild noch drastisch zu verändern, muss Steinmeier demnächst schon mit einem ganz besonderen Puzzleteil aufwarten.

Florian Güßgen mit Reuters