Als Matthias Röcke vor zwei Wochen den Namen "Franz Müntefering, Bundesminister a.D." auf der Einladungskarte zum 100-jährigen Bestehen des SPD-Ortsvereins Sinzig las, war er überrascht: Warum Münte? Und dann auch noch zusammen mit Andrea Nahles, der Bundestagsabgeordneten für den Wahlkreis Mayen-Koblenz, wegen der Müntefering vor drei Jahren als SPD-Vorsitzender das Handtuch geworfen hatte. Viel Prominenz und politische Brisanz für den Festakt des kleinen, 80 Mitglieder zählenden rheinland-pfälzischen Ortsvereins. Für den 58-jährigen Motorjournalisten Matthias Röcke und seine Frau Ursula (55) war klar: "Den Müntefering hören wir uns mal an." Im Nachhinein stellte sich die Einladung des Sauerländers als Coup heraus. Ziemlich genau zwei Wochen nach der Rückkehr auf die politische Bühne bei einer Wahlveranstaltung in München und fünf Tage nach dem "Chaos-Sonntag" am Schwielowsee sitzt da plötzlich nicht mehr der 68-jährige Polit-Pensionär Franz Müntefering im Pfarrsaal der katholischen Kirche St. Peter, sondern die neue Zukunfts-Hoffnung der SPD - begleitet vom politischen Aphrodisiakum Blitzlichtgewitter.
Ursula Röcke hofft, Franz Müntefering "als Mensch zu erleben". Sie wünscht sich aber auch, dass er "die Themen der vergangenen Woche anspricht" und sagt, "was mit Beck ist", den Rücktritt "erklärt". Ihr Mann Matthias will wissen, wie die SPD jetzt, nach Beck, zur Linkspartei steht. Agnes Menacher, Leiterin des Museums in Sinzig und Mitglied des SPD-Ortsvereins Remagen, hofft inständig, dass Müntefering die Flügel der Partei wieder "hinter sich vereinen" kann.
Neustart ausgerechnet im "Beck-Land"
Hoffnung, Orientierung, Verlässlichkeit, klare Kante. Alles das, was Kurt Beck, der beliebte Ministerpräsident, in Berlin nicht zu leisten vermochte: "Er war zu wankelmütig", sagt Matthias Röcke. "Er hat Fehler gemacht, vor allem beim Umgang mit den Linken", sagt Agnes Menacker. Nun also der Neustart, und das ausgerechnet im "Beck-Land" Rheinland-Pfalz, in der Barbarossa-Stadt Sinzig, der einstigen Kaiserpfalz. "Da hat jemand ein feines Näschen für politische Dramaturgie gehabt", sagt SPD-Sympathisant Matthias Röcke. Vermutlich war es Ingo Terschanski, der SPD-Ortsvereinsvorsitzende von Sinzig, der mit seiner Eröffnungsrede über die bewegte Geschichte der Sinziger SPD einen weiten Bogen vom Urknall über die Mittelalter-Historie bis hin zum ersten Länderspiel der Deutschen Nationalmannschaft am 5. April 1908 und schließlich zur Gründung des SPD-Ortsvereins am 12. September 1908 zog und damit kurzzeitig Stephen Hawkings "Kurze Geschichte der Zeit" Konkurrenz zu machen drohte.
Vor dieser "Rede" muss Franz Müntefering noch eine Gesangsdarbietung des Tenor- und Schifferklavier-Duos Wolfgang Haberneck und Roland Glöckner über sich ergehen lassen, in der die Sinziger Barden unter anderem schmettern: "Da ist er vom Traum erwacht. Und er ging und hat dabei gelacht. Ein Spielmann muss wandern, verfolgt vom Glück, wie schnell zieht es vorbei." Kann eine Basis so böse sein? Versteckte Drohung oder Rache für den mutmaßlich gemeuchelten Landesvater Kurt Beck, der am Tag darauf später in Mainz über das "Wolfsrudel" in Berlin herziehen sollte? Den Sinzigern ist ihrem Kurt Beck zuliebe und angesichts dieser Choreographie alles zuzutrauen.
Franz Müntefering ficht dies ebenso wenig an wie das zur Schau gestellte Grinsen einer leicht derangierten Andrea Nahles, die hinter jedem Stehtisch journalistische Heckenschützen vermutet, "die nur hier sind, weil sie wissen wollen, ob Franz und ich genügend miteinander lächeln". Müntefering sieht sich weder als glückloser Spielmann noch als "Übergangsvorsitzenden". Er will "Hoffnung geben" und "Potentiale wecken", sagt der designierte Vorsitzende dem Stern.
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Höflicher Applaus, aber keine Begeisterung
Als er um 19.50 Uhr endlich das Redner-Pult betreten darf - vom SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Treschanski am Ende seiner Urknall-Rede noch gerade im letzten Moment als "Mann aus dem Sauerland" vorgestellt - ist er in seinem Element. Im Hintergrund die zwei mal drei Meter große SPD-Fahne, daneben eine permanente Foto-Schau von sechs oder sieben Sinziger Heimat-Bildchen, zur Linken das Bild des "Großen Vorsitzenden" Willy Brandt, wie er lässig mit der Fluppe im Mundwinkel die Gitarre zupft, lädt er sich und die rund 150 Festakt-Gäste mit Bedeutung auf: "Alle 550.000 roten Brüder und Schwestern schauen heute auf Sinzig." So geht es weiter: Stolz, Kämpfen, Dinge besser machen, Solidarität, Demokratie sind die Schlüsselwörter seines 50-minütigen historischen Proseminars über die Geschichte der SPD.
Die kurzen Sätze sind es, die das politische Deutschland wohl so vermisst hat: "1949, Sozialdemokraten dachten, jetzt sind sie dran. Aber dann, Adenauer Bundeskanzler, mit einer Stimme, seiner Stimme, alles legal, klar." Und der sauerländische Humor, die Selbstironie: "Zur Demokratie gehört Opposition, aber lass das die anderen machen." Schon oft gehört, aber immer wieder gerne genommen. Vor allem in Zeiten, in denen die SPD um die 20 Prozent dümpelt und Fragen nach ihrer Lebensberechtigung zwischen Linken und soziale CDU gestellt werden. Ein Nebensatz zu Beck, ein weiterer zu Steinmeier, kein Wort zu den Linken, großes Lob für die ehrenamtlichen Trainer in den Sportvereinen, "die den Kindern Sport ermöglichen und so mehr für sie tun als wir Politiker", Mitgefühl für die Einsamen. Das war's, alles drin, alles dabei, sogar Visionen und Gedanken an Europa. Höflicher Applaus, aber keine Begeisterung im Publikum, das nicht nur aus SPD-Leuten besteht.
Seele streicheln kann nicht alles sein
Monika Michno, Gymnasial-Lehrerin aus Sinzig, würde dennoch jetzt, "wenn ich Zeit hätte", einen Mitgliedsantrag unterschreiben. Matthias Röcke meint, Müntefering habe "den Leuten den Rücken gestärkt". Aktuelle Bezüge habe er zwar vermisst, "aber das war sicher nicht der Zeitpunkt dafür". Seine Frau Ursula, von Beruf Lehrerin, fand Müntefering humorvoll. Imponiert habe ihr die "freie Rede". Überhaupt sieht sie in Franz Müntefering den lebenden Beweis für die in der SPD viel beschworene und zuletzt selten gelebte Solidarität: "Wie er zu seiner Frau gestanden hat, das war einzigartig. Das kennt man kaum von Männern dieser Generation." Für Agnes Menacher war die Rede "spritzig und dynamisch", gar wegweisend und aufrüttelnd: "Er hat gesagt, was Sozialdemokratie bedeutet. Das macht Mut." Von Andrea Nahles spricht niemand im Pfarrsaal der altehrwürdigen Sinziger Kirche.
Seele streicheln, Mut machen, in der Geschichte blättern, die immer kleine Trostpflaster bereit hält, sei es der offene Widerstand eines Otto Wels gegen das Nazi-Ermächtigungsgesetz 1933 oder die glorreiche Willy-Wahl 1972, bei der selbst im "katholischen Sauerland die Abiturienten in die SPD eintreten mussten, wenn sie nicht exkommuniziert werden wollten" (Müntefering). Ist es das, was die geschundene SPD derzeit braucht?
"Sicherlich muss auch die Seele gestreichelt werden", sagt Arno Joosten (26), Unternehmensberater und SPD-Mitglied aus dem benachbarten Bad Breisig. Aber das könne nicht alles sein. Ihm war es "zuviel Vergangenheit" an diesem Abend. Müntefering habe sich vor drei Jahren in der Partei nicht durchsetzen können. "Warum sollte ihn die Partei jetzt annehmen?" Und wenn ja, wie lange dauert es bis zum nächsten Königsmord? "Die Solidarität zum Vorsitzenden hält bei uns ja nicht lange an." Wichtig sei es, dass "wir uns für jemanden entscheiden, der länger bleibt. Wir müssen uns sortieren, wir müssen wissen, was wir wollen." Joosten "misstraut" seiner eigenen Partei. Auch deswegen hätte er sich gewünscht, dass Franz Müntefering etwas "zu den Ereignissen vom Sonntag sagt". Und: "Irgendwann muss er dazu etwas sagen."
Und was sagt Andrea Nahles zu dem Ganzen, die schließlich vor drei Jahren maßgeblich daran beteiligt war, dass Franz Müntefering als Vorsitzender zurücktrat: "Meine Stimme hast du", war in ihrer zehnminütigen Rede über ihre Leidenszeit als Messdienerin und den sozialdemokratischen Geist im Elternhaus die einzige gehaltvolle Aussage, die sie gleichwohl später im Gespräch mit dem Stern auf eigenartige Weise relativierte: "Ich freue mich, bin aber gleichzeitig traurig. Mit Kurt Beck wäre es heute sicher ein anderer Abend gewesen, familiärer." Was sie damit genau meinte, mochte die Lokalmatadorin nicht weiter ausführen. Loyalität, Teamwork und gemeinsames Anpacken sieht anders aus als an diesem teilweise ins Surreale abgleitenden Abend in der 18.000-Einwohner-Stadt südlich von Bonn. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie lange das Glück des fahrenden Spielmannes nach dem Parteitag am 18. Oktober anhält.