Grünen-Parteitag in Berlin Frau Blass und Herr Beschädigt

Die Grünen haben ihre Parteispitze neu gewählt - ließen aber für Simone Peter und Cem Özdemir nur wenig Begeisterung erkennen. Nicht die beste Voraussetzung für einen Neustart.

Das ist also die Zukunft der Grünen?

Gegen 17.40 Uhr tritt die Saarländerin Simone Peter im Berliner Velodrom ans Rednerpult. Sie trägt gelbe Bluse und schwarze Jacke, was nicht alle Delegierten passend finden. Ihre Bewerbungsrede für den Parteivorsitz liest sie vom Blatt ab, sie wirkt schüchtern, fast unsicher. Und sie sagt sehr viele unverfängliche Sätze. Zum Beispiel: "Wir können und wir werden auch wieder gewinnen." Die Delegierten applaudieren höflich, etwas lauter, als sie es sonst bei einem solchen Vortrag tun würden. Niemand will sie vom Start weg demolieren. Aber Begeisterung sieht anders aus. Peter ist promovierte Mikrobiologin, sie war in der saarländischen Jamaika-Koalition Landesministerin für Umwelt, Energie und Verkehr: Sie ist, böse gesagt, die linke Quotenfrau für die Parteiführung. Ihr Wahlergebnis, das Punkt 18 Uhr feststeht: 75,91 Prozent. Das ist auch für Grünen-Verhältnisse mau.

Cem Özdemir, einer der wenigen aus der Führung, der die Bundestagswahl politisch überlebt hat, wird wenig später mit 71,41 Prozent gewählt. Er hatte selbst mit einem schlechten Ergebnis gerechnet, und so ist es gekommen. Özdemir, Exponent der Realos, hat schließlich das miserable Abschneiden der Grünen am 22. September mitzuverantworten. Seine Kritiker werfen ihm vor, er habe nicht genügend Einfluss auf das Wahlprogramm entfaltet und ein schwarz-grünes Bündnis nicht hinreichend vorbereitet. Außerdem wird ihm verübelt, dass er sofort nach der Bundestagswahl gegen Jürgen Trittin vorgegangen sei - und die Grünen damit destabilisiert habe. Diesen Unmut versucht Özdemir in seiner Bewerbungsrede abzufangen. Mit Selbstkritik ("Ich habe in den vergangenen Jahren Fehler gemacht"); mit Angeboten an die Parteifreunde in der Provinz ("Wir wären doch bescheuert, wenn wir nicht stärker auf das Know-How in den Ländern setzen würden") und mit leidenschaftlichen Appellen, die Flügelstreitigkeiten einzustellen. Es funktioniert. Zumindest ein bisschen.

Aber das ändert nichts daran, dass sich in der Parteiführung nun Frau Blass und Herr Beschädigt treffen. Sie werden sich zunächst innerparteilich breitere Akzeptanz erarbeiten müssen, bevor sie gewinnbringend nach Außen wirken können.

Sie ist die DNA der Grünen

Die Neuwahl der Führungsspitze - zu der auch Vorstand, politische Geschäftsführung, Parteirat und der zuvor bereits festgelegte Fraktionsvorsitz gehören - bedingt auch den Abschied von den Vorgängern. Bezeichnenderweise erreicht die Bundesdelegiertenkonferenz dabei (und nicht beim Blick nach vorn) ihren absoluten emotionalen Höhepunkt. Die Delegierten sind geradezu außer sich, als sich vor ihren Augen am Nachmittag eine historische Szene vollzieht: Nach einer bewegenden Rede schnappt sich Claudia Roth Handtasche und Harry-Potter-Mantel und verlässt das Podium im Velodrom. Mit geröteten Augen setzt sie sich in die Stuhlreihen ihres Heimatverbandes Bayern - während die Delegierten noch immer stehend applaudieren. Neun Jahre stand Roth an der Spitze der Partei und sie repräsentierte, das ist Realos und Linken gleichermaßen klar, so etwas wie die DNA der Grünen.

Vor ihrer Rede treten zwei Laudatoren auf, die Roth in den höchsten Tönen preisen, gleiches gilt für Mitstreiter, die sich in einem Einspielfilm äußern. Jürgen Trittin: "Ohne Claudia Roth wird sich diese Partei neu erfinden müssen." Winfried Kretschmann: "Man kann sich die Partei ohne Claudia eigentlich nicht vorstellen. Frithjof Schmidt: "Du verkörperst die emotionale Wahrheit unserer Partei wie niemand sonst." Theresa Schopper: "Dein Einsatz kannte keine Grenzen."

Nit ihr geht eine Ära zu Ende

Und das ist nur eine kleine Auswahl aus der kollektiven Hymne. Nun wird sich Claudia Roth zur Vizepräsidentin des Bundestages wählen lassen. Niemand weiß, wie sie in diesem staatstragenden Job ihr emotionales, dynamisches Wesen wird ausleben können. Allen ist nur klar: mit ihr geht eine Ära zu Ende. Und es war nicht die schlechteste für die Grünen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Neben Roth hat die Partei einen weiteren Abgang zu verkraften, der kurz zuvor über die Bühne geht: Steffi Lemke, die elf Jahre lang politische Geschäftsführerin der Partei war, gibt ihr Amt ab. Sie hatte die Partei modernisiert, eine zentrale Mitgliederkartei eingeführt, Basisabstimmungen und Sonderparteitage organisiert. Unter Lemke kletterte die Zahl der Grünen-Mitglieder auf Rekordstände, die Grünen schafften es in alle 16 Landesparlamente, zuweilen mit zweistelligen Ergebnissen. Aber Lemke war eben auch für die Kampagne für die Bundestagswahl 2013 verantwortlich - und mit diesem Ergebnis kann sie nicht weitermachen. Sie wird nun in die parlamentarische Geschäftsführung der Bundestagsfraktion einsteigen, ihr Nachfolger ist der Parteilinke Michael Kellner.

Die Grünen werden in ein mediales Loch fallen

Es wird schwer für die neue Führung, die Partei wieder aufzurichten und für die Bundestagswahl 2017 fit zu machen. Nach dieser Bundesdelegiertenkonferenz wird sie in ein mediales Loch fallen, weil sich in den kommenden Monaten alles um die neue Große Koalition dreht.

Danach müssen sich die Grünen auf Bundesebene mit einer Nebenrolle begnügen: Sie stellen die kleinste Fraktion im Bundestag. Weshalb es so gekommen ist, diskutierte die Partei am Freitagabend und Samstagvormittag ausgiebig. Und bei allen unterschiedlichen Bewertungen ist eine Grundlinie der Interpretation erkennbar: Die Debatten um Steuererhöhungen und Verbotsorgien hätte die Partei vielleicht noch durchgestanden. Die Debatte um Pädophilie hat die Wahl dann entschieden.