Joschka Fischer hatte es getan, Franz Müntefering auch, Frank-Walter Steinmeier ebenso. Es ist nicht unüblich, dass der Vizekanzler mal eine Kabinettssitzung leitet. Vor allem in der Sommerpause, wenn der Chef - respektive die Chefin - irgendwo die geschundene Seele baumeln lässt. Unüblich ist jedoch, dass der Vizekanzler nach der Sitzung persönlich vor die Bundespressekonferenz tritt, um sich zur Lage der Nation zu erklären. Fischer hatte darauf verzichtet, Müntefering auch, Steinmeier ebenso. Guido Westerwelle, FDP, natürlich nicht.
Eitelkeit? Größenwahn? Oder wollte Westerwelle, dessen FDP nach neun Monaten Regierung aussieht wie ein Crash-Test-Dummy nach dem Frontalaufprall, eine Botschaft loswerden? Die Opposition spottete schon im Vorfeld. "Mal schauen, ob jetzt die B-Besetzung den kaum noch zu erwartenden Neustart der Regierung schafft", sagte Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion.
Auf dem Stuhl der Ehre
Die Themen indes, um die es bei der Kabinettssitzung im Kanzleramt ging, konnten gar keinen Treibstoff für einen Neustart liefern. Der Führerschein mit 17 Jahren stand auf der Agenda, Westerwelles Lateinamerika-Konzept, auch die Hilfe für das von der Flut verwüstete Pakistan. Acht von 15 Ministern waren gekommen, der bereits urlaubende Rest ließ sich von Staatssekretären vertreten. Aufsehen erregte wohl nur ein symbolischer Akt: Westerwelle ließ sich auf Angela Merkels Stuhl nieder, der Chefposition am ovalen Tisch des Kabinettsaales, vor sich die goldene Glocke, mit der Sitzungen eingeläutet oder auch Ruhe herbeigeläutet werden kann. "Man empfindet es natürlich schon in dem Augenblick als eine große Ehre, dass man seinem Land dienen darf", sagte Westerwelle mit dem für ihn typischen, leicht verqueren Pathos.
Doch das war nur eine kleine Irritation. Ansonsten vermied der FDP-Chef alles, was seine Auftritte bisweilen so unerträglich macht: das Schrille, Maßlose, Gereizte und die sich prinzipiell an die gesamte Milchstraße richtenden Ordnungsrufe. Westerwelle trat auf, als hätte er zuvor eine Familienpackung Baldrian eingeworfen, um sich herunter zu pegeln. Ganz Staatsmann, seriös und halbwegs gelassen. Was, angesichts von Umfragewerten von vier Prozent für die FDP und seinem eigenen dramatischen Autoritätsverlust, ein überraschendes Beispiel von Beherrschtheit war. Keine Sorge, Angie - ich kann auch normal, wollte er der in Südtirol wandernden Kanzlerin offenbar zurufen.
Die Frage nach dem Parteivorsitz
Entgegen der hektisch verbreiteten Agenturmeldungen, die Entscheidungskraft und klare politische Positionierung signalisieren, vermied Westerwelle in weiten Teilen jede konkrete Festlegung. Beim Reizthema Hartz IV wollte er nicht sagen, ob er eine Kopplung der Sätze an die Nettogehälter und die Inflation für richtig hält. In Sachen Wehrpflicht ließ er sich nicht auf das Ziel festlegen, die Bundeswehr in eine Berufsarmee umzuwandeln. Beim Thema Atomkraft benutzte er die gängige Formel von der "Brückentechnologie", ohne die geplante Verlängerung der Laufzeiten zu quantifizieren. Selbst bei der Rentengarantie, die sein Parteifreund, Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, jüngst in Frage gestellt hatte, wich Westerwelle aus. Es gäbe keinen Beschluss für eine Änderung, es sei aber klug, darüber zu diskutieren, sagte er im besten Diplomatensprech.
Immerhin: Westerwelle nannte einen Maßstab für seinen Verbleib im Parteivorsitz. Auf die Debatte um seine Person angesprochen erwiderte er: "Ich hatte schon Monate mit sehr schlechten Umfragen - aber die Wahlergebnisse haben immer gestimmt. Sonst säße ich nicht hier." 2011 stehen sechs Landtagswahlen an, zusätzlich könnte es in Nordrhein-Westfalen zu Neuwahlen kommen. Erleidet die FDP Verluste, und kippt deswegen zum Beispiel die bürgerliche Mehrheit in Baden-Württemberg, dürften Westerwelles Tage an der Spitze der Partei gezählt sein. Als Nachfolger werden Generalsekretär Christian Lindner, Gesundheitsminister Philipp Rösler oder auch Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gehandelt. Die Probleme der Kandidaten liegen auf der Hand: Lindner ist zu jung, Rösler politisch angezählt und Leutheusser-Schnarrenberger würde vieles verkörpern, aber sicher keinen personellen Aufbruch.
Malle und der Mondsee
Wachsen Westerwelle mittlerweile ein paar graue Haare auf der Tolle, wie es auf den Fotos den Anschein hat? Erschöpft ist er sicher. Er habe früher gerne über unausgeschlafene Regierungsmitglieder gelästert, sagte Westerwelle. Nun spüre er selbst ein Maß an Verantwortung, "Tag und Nacht", wie es sich mancher nicht ausmalen könnte. Doch dem Mann kann geholfen werden: Wie der österreichische "Standard" meldet, fliegt Westerwelle zunächst mit Lebensgefährte Michael Mronz an den österreichischen Mondsee, um seinen Amtskollegen Michael Spindelegger und dessen Frau zu besuchen. Geplant sei ein Abendessen, eine Wanderung und eine Bootsfahrt, alles rein privat.
Danach geht es dem Vernehmen nach weiter nach Malle. Dort ist es am Wochenende sonnig bis leicht bewölkt. In jedem Fall angenehmer als in Berlin. Besonders für Westerwelle.