Affäre um Staatssekretär "Wasser predigen und Wein trinken": So kommentiert die Presse Habecks Festhalten an Graichen

Robert Habeck (r.) mit seinem Staatssekretär Patrick Graichen
"Ein schwerer Verstoß gegen den Verhaltenskodex seines Ministeriums": Robert Habeck (r.) mit seinem Staatssekretär Patrick Graichen
© John MacDougall / AFP
Wirtschaftsminister Robert Habeck hat verkündet, seinen Staatssekretär Patrick Graichen ungeachtet des Vorwurfs der Vetternwirtschaft nicht zu feuern. In den Kommentarspalten der deutschen Presse stößt er damit auf breite Kritik.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hält trotz heftigen Gegenwindes und lauter Vorwürfe an seinem Staatssekretär Patrick Graichen fest. "Ich habe entschieden, dass Patrick Graichen wegen dieses Fehlers nicht gehen muss", sagte der Grünen-Politiker nach einer rund zweieinhalbstündigen Befragung durch Abgeordnete am Mittwoch. Es laufe nun allerdings eine beamtenrechtliche Prüfung, denn gegen Vorgaben des Wirtschaftsministeriums sei "erkennbar verstoßen worden".

Graichen, ebenfalls Mitglied der Grünen, war an der Auswahl von Michael Schäfer als neuem Geschäftsführer der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena) beteiligt, obwohl dieser sein Trauzeuge war. Sowohl Graichen als auch Habeck sprechen mittlerweile von einem Fehler. Das Verfahren zur Personalauswahl soll neu aufgerollt werden. Gemeinsam mit Graichen hatte Habeck wegen des Vorgehens den Mitgliedern der Ausschüsse für Wirtschaft sowie Klimaschutz und Energie Rede und Antwort gestanden.

So kommentiert die Presse die Causa Habeck/Graichen:

"Reutlinger General-Anzeiger": "Habeck hat nun entschieden, dass Graichen seinen Job behält. Dass er an seinem engsten Vertrauten festhalten will, ist verständlich, aber unklug. Die Grünen werfen den konservativen Parteien gerne Klüngelei und "schwarzen Filz" vor. Sie sprechen von der eigenen positiven Fehlerkultur und fordern Transparenz ein. Daran muss sich nun auch Habeck messen lassen. Will er glaubwürdig bleiben, ist Graichen nicht mehr haltbar. Nicht, weil dieser besonders negativ aufgefallen ist, sondern weil Graichen den moralischen Ansprüchen der eigenen Partei nicht genügt."

"Augsburger Allgemeine": "In der Trauzeugenaffäre hat sich Robert Habeck entschieden, an seinem Staatssekretär Patrick Graichen festzuhalten. Diese Entscheidung ist falsch. Statt kühl einen Schnitt zu setzen, bindet sich Habeck einen Klotz ans Bein. Und jetzt passiert, was häufig passiert bei politischen Affären. In der Aufklärung passieren Pannen, die es noch schlimmer machen. So spricht der Wirtschaftsminister von einem Fehler, der geheilt wird. Fehler, das klingt menschlich und verzeihbar. Jeder macht Fehler. Aber Graichen hat nicht fahrlässig einen Fehler gemacht, sondern wollte seinem Freund und Trauzeugen eine sehr gut bezahlte Stelle verschaffen. Das ist ein schwerer Verstoß gegen den Verhaltenskodex seines Ministeriums."

"Rheinpfalz" (Ludwigshafen): "Wenn Habeck seine Energiepläne umsetzen und sie am besten mehrheitsfähig machen will, braucht er Glaubwürdigkeit. Der Anschein darf gar nicht aufkommen, dass Familienmitglieder, Freunde und Gönner einen Vorteil aus der Nähe zu Staatssekretär Graichen ziehen. Genau deshalb muss Habeck seinen Staatssekretär entlassen."

"Badische Zeitung" (Freiburg): "Dass die Grünen um Habeck glauben, sich damit über die Runden retten zu können, deutet darauf hin, dass Realitätsverlust eingetreten ist. Die Affäre trifft ja nicht irgendeine Partei. Für die Grünen sind Affären besonders heikel, die den Anschein von Vetternwirtschaft tragen. Ihre Politik ist stets mit einem Ton moralischer Überlegenheit unterlegt, mit einer selbstgewissen Attitüde des genauen Wissens um das, was politisch nicht nur richtig, sondern auch ethisch geboten ist."

"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg): "Habeck, Graichen, aber auch die vielen Verteidiger, die jetzt behaupten, hier werde gar kein Fehlverhalten angegriffen, sondern die neue Energiepolitik an sich – sie alle bemühen sich, Vetternwirtschaft als etwas Normales darzustellen. Das ist es aber nicht. Und ging es um "etablierte Parteien" haben gerade ehemalige Grüne wie Otto Schily, Christian Ströbele oder Gerhard Schick stets ein gutes Gespür bewiesen, wenn es darum ging, Missstände anzuprangern. Im Filzpantoffel lässt sich keine vertrauenswürdige Politik machen. Sollte Habeck das partout nicht verstehen, dann könnte auch sein Stuhl schon bald wackeln. Er wäre nicht der erste Minister, der sich so lange der Aufklärung verweigert, bis daraus der eigentliche Skandal wird. Insofern: An einem Rücktritt Graichens führt kein glaubwürdiger Weg vorbei. Und das Wirtschaftsministerium gehört familiär entflochten. Als sie noch Oppositionspartei waren, hätte man so etwas den Grünen gar nicht sagen müssen."

"Die Glocke" (Oelde): "Der Minister wird seinen Staatssekretär kaum halten können. Versucht Habeck auf Zeit zu spielen, verliert er an Glaubwürdigkeit, wird aus einer Affäre Graichen eine Affäre Habeck. Eine Entlassung Graichens ist allerdings problematisch, weil der Staatssekretär die Umsetzung der Energiewende organisieren muss. Aber wenn Netzwerke, ohne die es in der Politik nie geht, zu Familienangelegenheiten werden, ist Gefahr im Verzug, ist die Grenze zu Vetternwirtschaft oder Korruption schnell überschritten."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

"Volksstimme" (Magdeburg): "Die grüne Wirtschaftsmacht innerhalb der Ampel-Koalition fußt auf zwei Säulen: Ökonomie und Moral. Beide Felder wollte Minister Robert Habeck vorbildlich bedienen. Wirtschaftlich ist er mit dem Heizungsverbotsprogramm auf dem besten Wege, grandios zu scheitern. Ohne Rücksicht auf Betroffene, Kosten und Technik will das Habeck-Ministerium die Zwangsauswechslung von Gas- und Ölheizungen von 2024 an durchsetzen. Inzwischen wird selbst aus den Regierungsparteien gefordert, die Frist zu verlängern. Da lässt sich vielleicht noch etwas reparieren, beim moralischen Anspruch nicht. Der ist durch den grünen Filz im Ministerium flöten gegangen. Aus der Verquickung von Privatem und Dienstlichen dort hat Habeck eine verblüffende Konsequenz gezogen: Staatssekretär Patrick Graichen als Schlüsselfigur darf bleiben! Damit reitet sich der Minister weiter selbst hinein. Nicht nur Graichens Stuhl wackelt, sondern auch sein eigener."

"Glaube nicht, dass sich Grüne mit Geld bewerfen" – Augstein und Blome streiten über "Trauzeugen-Affäre"
"Glaube nicht, dass sich Grüne mit Geld bewerfen" – Augstein und Blome streiten über "Trauzeugen-Affäre"
© n-tv.de
"Glaube nicht, dass sich Grüne mit Geld bewerfen" – Augstein und Blome streiten über "Trauzeugen-Affäre"

"Stuttgarter Zeitung": "Die Grünen reagieren auf die Vorwürfe der Vetternwirtschaft rund um das von Robert Habeck geführte Wirtschaftsministerium gemäß den etablierten Gesetzen des politischen Krisenmanagements: Aussitzen, ein bisschen Bedauern, ein kleines Bauernopfer – und ansonsten forsche Gegenattacke auf die Angreifer. Nicht etwa Habecks Staatssekretär Graichen soll seinen Stuhl räumen, obwohl er seinem Trauzeugen zu einem Führungsposten im Bundesunternehmen Dena verhelfen wollte. Nein, der Begünstigte selbst verzichtet auf die Position. Und ansonsten – heiter weiter."

"Neue Presse" (Coburg): "Nun wird die Partei von einer Affäre getroffen, die so ganz und gar ins altbekannte Politik-Klischee passt. Und sie trifft die Partei zu einer Zeit, da sie den Bürgern viele Veränderungen, viele Unbequemlichkeiten zumuten will. Wasser predigen und Wein trinken – dass dieses Bild hängen bleibt, ist die eigentliche Gefahr für die Partei. Würde sie das wirklich erkennen, dann hätte Staatssekretär Graichen keine politische Zukunft mehr."

"Kölner Stadt-Anzeiger": "Für den Moment hat Graichen mit einer formvollendeten Entschuldigung selbst etwas Druck aus dem Kessel genommen. Dennoch muss Habeck, wegen des Desasters um das geplante Verbot von Gas- und Ölheizungen in Neubauten ohnehin unter Druck, sich fragen, ob das Festhalten an seinem Vertrauten ihm politisch nicht mehr schadet, als Graichens Verbleib im Ministerium ihm nutzt."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Habeck und Graichen müssen sich nun den Maßstäben stellen, die ihre Partei gerne an ihre vermeintlich sündhafte Konkurrenz anlegt, die sie aber für sich selbst, weil ohne Fehl und Tadel, nur eingeschränkt gelten lassen möchte. In grün geführten Ministerien, ob in Rheinland-Pfalz oder in Berlin, gilt allzu oft das Prinzip: Grüner Zweck heiligt grüne Mittel. Seinen Freund und Trauzeugen zum Geschäftsführer einer Bundesagentur zu machen, hätte sich keine andere Partei ohne Skandal und personelle Konsequenzen leisten können. Aber die Grünen? Habeck ließ die Entscheidung annullieren – Fall erledigt? Immerhin schloss er sich der Linie Trittins nicht an, der schon für Annalena Baerbock im Bundestagswahlkampf alles andere als ein guter Ratgeber war. Der Minister gibt den Fehler offen zu. Folgt nun ein Disziplinarverfahren?"

"Junge Welt" (Berlin): "Vetterleswirtschaft, Amigo-Bayern, SPD-Filz, FDP-Postenkleberei usw. – nun muss mal gut sein. Das Bauernopfer, der Trauzeuge Graichens, hat sich vom Acker gemacht. Prognose: Für ihn wird irgendwas mit mehr Gehalt gefunden. Und Friedrich Merz erwägt einen Untersuchungsausschuss? Der fliegende CDU-Mittelständler könnte genausogut seinen delegierenden Betrieb, Blackrock, veranlassen, die Bundesrepublik aufzukaufen. Mit zehn Billionen US-Dollar geht das ungefähr zweieinhalbmal. Ist schon im Gange? Also doch eine Verschwörung? Oder nur Normalverhalten von Großkapital? Graichen und Familie schaufeln sich gegenseitig vergleichsweise nur Peanuts zu. Das ist so arm, dass es einen Merz ankotzen muss. Vorerst ist aber nur Graichen grün im Gesicht. Elend eben."

"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": "Sollte man im Hause Robert Habeck wirklich gewillt gewesen sein, die Vermischung privater und beruflicher Belange zu vermeiden, hätte Patrick Graichen sensibilisiert sein und sich bei der Vergabe des Spitzenpostens bei der Deutschen Energieagentur für befangen erklären müssen. Dass sein Trauzeuge mittlerweile einen Rückzieher gemacht hat, ändert nichts daran: Das Thema ist noch nicht vom Tisch."

DPA · AFP
mad