Kommentar Steinmeier und die Leiden des jungen K.

Außenminister Steinmeier hat versucht, mit einem "Bild"-Interview den Fall Kurnaz abzuschütteln. Doch der Befreiungsschlag ist misslungen. Steinmeier steht weiter im Verdacht, dafür mitverantwortlich zu sein, dass ein Unschuldiger jahrelang in Guantanamo darben musste.

Die "Bild"-Zeitung spitzt zu, bisweilen sehr treffend. "Haben Sie diesen Menschen leiden lassen, Herr Steinmeier?", schlagzeilte sie am Freitag über einem Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Daneben war zu sehen: Ein Bild von Murat Kurnaz, 24, in Bremen aufgewachsener türkischer Staatsbürger, zwischen 2002 und 2006 über vier Jahre unschuldig im US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba inhaftiert. Das Interview ist der Versuch eines Befreiungsschlags - ein missglückter Versuch, denn Steinmeier kann die zentralen Vorwürfe nicht ausräumen, die in der Kurnaz-Affäre gegen ihn in seiner Funktion als Chef des Schröderschen Kanzleramts erhoben werden.

Die Bundesregierung verhinderte Kurnaz Rückkehr nach Deutschland

Im Kern geht es um folgenden, schwer wiegenden Vorwurf: Die Bundesregierung hat im Herbst 2002 - unabhängig vom Verhalten der USA - offenbar alles unternommen, um zu verhindern, dass Kurnaz von Guantanamo nach Deutschland überstellt wurde.

Dafür gibt es Belege. Die so genannte "Präsidentenrunde", in der die Chefs der deutschen Geheimdienste vertreten waren und die Steinmeier leitete, beschloss am 29. Oktober 2002, Kurnaz die Einreise nach Deutschland zu verweigern. Das berichtete der stern im Dezember, die "Süddeutsche Zeitung" berichtete am Freitag, dass Steinmeier an diesem Tag an der Sitzung teilnahm. Weil sich das Kanzleramt und das Innenministerium Otto Schilys in der Sache Kurnaz einig waren, wurde bereits am 30. Oktober 2002 eine Vorlage für Innenstaatssekretär Claus Henning Schapper erarbeitet, in der, wie der stern in seiner jüngsten Ausgabe berichtet, eine klare ausländerrechtliche Strategie skizziert wird, wie Kurnaz aus Deutschland fernzuhalten ist. Man wollte ihn schlicht nicht hier haben. Dafür ist Steinmeier mit verantwortlich, weil er der Präsidentenrunde vorsaß.

Steinmeier sieht Deutschland nicht in der Pflicht

Von der "Bild"-Zeitung auf den Plan angesprochen, Kurnaz' die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, bestreitet Steinmeier das nicht einmal. Dazu ist die veröffentlichte Aktenlage mittlerweile offenbar zu eindeutig. Stattdessen setzt er auf eine neue Rechtfertigungsstrategie. Die sieht so aus, dass der Außenminister bestreitet, dass Deutschland im Fall Kurnaz auf irgendeine Weise in der Pflicht war, für das Wohl eines türkischen Staatsbürgers zu sorgen. Nur weil wir Kurnaz nicht wollten, so die Stoßrichtung, heißt das noch lange nicht, dass wir seine Freilassung verhindert haben. Die Türken hätten ihn ja nehmen können! Dann wäre er doch auch frei gewesen! Im Steinmeierschen Original-Wortlaut liest sich das dann so: "Die Alternative lautete doch nicht Deutschland oder Guantanamo. Was sprach denn gegen seine Einlassung in die Türkei wo seine Ehefrau und weitere Familienangehörige leben? Die Bundesregierung hat die Freilassung von Kurnaz zu keinem Zeitpunkt hintertrieben."

Eine moralische Fürsorgepflicht

Ist Deutschland also fein raus? Richtig ist, dass Kurnaz kein deutscher Staatsbürger war und ist. Konsularrechtlich erwachsen Deutschland also keine Pflichten. Richtig ist aber ebenso, dass Kurnaz' Lebensmittelpunkt unbestreitbar Deutschland war. Er ist in Deutschland aufgewachsen, er ist hier zur Schule gegangen, er hatte eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Mit der Türkei hatte er wenig zu tun - bis auf die Tatsache, dass er dort eine arrangierte Ehe einging. Daraus erwächst für Deutschland zwar keine konsularische Fürsorgepflicht, zumindest aber die moralische Pflicht, ihn wieder aufzunehmen und ihm sein vorheriges Leben und seinen vorherigen Status zu ermöglichen - zumal, wenn er unschuldig in Terrorverdacht geraten und inhaftiert worden ist.

Steinmeier, das sagte er nicht, sieht das offenbar anders - und dazu passt das Verhalten der damaligen Bundesregierung. Sie setzte alles daran, Kurnaz' Status in diesem Land zu verschlechtern, ihn gar nicht erst wieder herein zu lassen, obwohl er sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen. Das ist, jenseits aller konsular-juristischen Überlegungen, moralisch verwerflich. Mit der Achtung oder gar Förderung von Menschenrechten hat das nichts zu tun.

Die Sache mit den "Agentenspielen

Noch perfider wird dieses Verhalten durch jenen Aspekt der Affäre, in dem es um das angebliche Angebot der USA geht, Kurnaz frei zu lassen. Steinmeier wiederholt in dem "Bild"-Zeitungs-Interview seine Behauptung, dass es kein "offizielles" Angebot der Amerikaner gab. Er bezeichnet entsprechende Überlegungen des Bundesnachrichtendienstes (BND) und der US-Dienste als "Agentenspiele", auf die er sich nicht habe einlassen wollen, weil dazu gehört hätte, Kurnaz in Deutschland als Spitzel in der islamistischen Szene einzusetzen.

An dieser Argumentation sind mehrere Punkte problematisch. Zunächst die Sache mit dem "offiziellen" Angebot: Wie hätte es denn je ein "offizielles" Angebot der USA geben können? Offizieller Ansprechpartner hätten konsularisch die Türken sein müssen, auch wenn Deutschland de facto Kurnaz' Heimatland war. Wenn Steinmeier also sagt: "Mir ist ein offizielles Angebot nicht bekannt", dann ist das eine Binse, weil der einzige Weg, Kurnaz frei und nach Deutschland zu bekommen, nur über Geheimdienstkanäle geführt hätte.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Welche Bedingungen stellten die Amerikaner?

Und die Geheimdienste, so scheint es, waren sich im Prinzip einig. Deutsche Fahnder, die Kurnaz im September 2002 auf Guantanamo verhört hatten, hatten festgestellt, dass Kurnaz unschuldig war und außerdem nichts über die Islamistenszene wusste. Das hatten offenbar auch die Amerikaner spitz gekriegt. Beide Seiten gingen offenbar davon aus, dass es möglich sein würden, Kurnaz schnell frei zu lassen. Kurz wurde mit der Idee gespielt, ihn als Spitzel in der islamistischen Szene einzusetzen. Das aber verwarfen BND-Beamte schon Anfang Oktober wieder, eben weil Kurnaz nichts wusste, beziehungsweise unschuldig war. Auch die Präsidentenrunde lehnt die Spitzeltätigkeit ab, offenbar im Beisein Steinmeiers.

Es gab also so etwas wie ein Angebot der USA, das Steinmeier nun als "Agentenspiele" abtut. Ungeklärt ist dabei nur, ob eine Spitzeltätigkeit Kurnaz' für die Amerikaner eine notwendige Bedingung für dessen Freilassung war - oder ob sie bereit waren, ihn auch ohne Spitzeltätigkeit frei zu lassen. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass auch die USA vor allem eines wollten: Kurnaz los werden. In so einer Situation stellt man gemeinhin kaum unerfüllbare Bedingungen. So machte etwa ein US-Geheimdienstler sein Unverständnis über die Ablehnung des US-Angebots durch die Deutschen im Dezember 2002 in einem Schreiben an BND-Chef Hanning deutlich. Auszüge aus dem Brief veröffentlichte der stern in seiner jüngsten Ausgabe.

"Wir haben uns heute nichts vorzuwerfen"

Das groteske, menschenverachtende Verhalten der rot-grünen Bundesregierung im Fall Kurnaz wird durch ein Gedankenexperiment deutlich: Hätte es Anzeichen gegeben, dass Kurnaz Kontakte zur Islamistenszene hatte, wäre er also gewissermaßen "schuldig" gewesen und dadurch möglicherweise ein nützlicher Spitzel, unter diesen Umständen hätte die "Präsidentenrunde" möglicherweise seine Rückkehr nach Deutschland befürwortet. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung nahm Kurnaz nicht zurück, obwohl er unschuldig war. Sie hätte ihn aber möglicherweise genommen, wenn er "schuldig" gewesen wäre. Mehr noch: Sie hat ihn für seine Unschuld bestraft.

Noch fehlen plausible Gründe

Plausible Gründe dafür, weshalb man ihm nichts mehr vorwerfen kann, hat der Außenminister in dem "Bild"-Zeitungs-Interview nicht geliefert. Er hat weder schlüssig erklärt, weshalb man Kurnaz 2002 nicht in Deutschland haben wollte noch den Beleg dafür geliefert, dass man Kurnaz nicht hätte haben können. Stattdessen hat er Nebelkerzen geworfen, der Türkei den Schwarzen Peter zugeschoben, die Bemühungen der Geheimdienste als "Agentenspiele" abgetan.

Diese Aussagen werden nicht reichen, die Affäre Kurnaz, die immer mehr zu einer Affäre Steinmeier wird, zu beenden. Man muss also davon ausgehen, dass Steinmeier bei seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages erheblich weiter führende Informationen vorlegen wird, als er es gegenüber der "Bild"-Zeitung getan hat. Kann er dies nicht, wird eine Debatte über seinen Rücktritt einsetzen - auch wenn das für ihn nach eigenem Bekunden kein Thema ist. "Haben Sie diesen Menschen leiden lassen, Herrn Steinmeier?" Eine überzeugende Antwort steht aus.