Das Bild jener Frau ließ ihn nicht mehr los. Die Muskeln verkümmert, die Knochen verformt, zusammengekauert lag sie in ihrem Bett. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht essen. Eine Sonde im Magen flößte ihr Nahrung ein, ein Katheter sammelte den Urin. Dreimal die Woche zogen sich Betreuer Handschuhe über und entfernten aus ihr den Kot. Ein schwerer Schlaganfall, seit sieben Jahren lag sie so da. Er stellte sich vor, er läge an ihrer Stelle, nackt vor fremden Menschen. Würde bemerken, wie sie in den Darm eindringen. Könnte nicht sagen, ich schäme mich. Könnte nicht bitten, ich möchte sterben.
Es war während seiner Ausbildung, acht Wochen lang betreute er die Frau. Jahre danach erzählt er von ihr. Er finde kaum ein Wort dafür, so unwürdig sei dieser Zustand, sagt er zu den Beamten der Kriminalpolizei Kempten, als er ihnen erklärt, warum er nach dem Ende seiner Ausbildung 29 Menschen getötet hat.
Stephan L. ist wegen Mordes
in 16 Fällen angeklagt, wegen Totschlags in zwölf Fällen, wegen Tötung auf Verlangen in einem Fall. Auch wegen versuchten Totschlags in einem Fall, wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen. Seine Opfer waren zwischen 22 und 95 Jahre alt. Sie waren Patienten der Inneren Abteilung auf Station 1 des Krankenhauses Sonthofen im Allgäu. Der Prozess gegen den 27 Jahre alten Krankenpfleger beginnt am Dienstag vor dem Landgericht Kempten.
Er spricht ruhig, als er vernommen wird, selten ist er aufgewühlt. Menschen wie jene Frau habe er so viele gesehen. Was sei das für ein Zustand, in absoluter Abhängigkeit im Bett zu liegen, ohne die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen? Was seien das für Ärzte, die einem alten Mann zuriefen: "Ach, das wird schon wieder", und die Tränen des Mannes nicht bemerkten, der seine unheilbare Krankheit genau begreife?
Stephan L. erzählt von Kliniken und Altenheimen

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, in denen er im Zivildienst als Rettungssanitäter war, er nennt sie Orte des Horrors. Vom Reanimieren Sterbenskranker erzählt er, von dem Geräusch bei der Herzdruckmassage, dem Krachen, wenn die Rippen brechen. Er habe die Hilflosigkeit der Helfer nicht ertragen, berichtet er dem Psychiater, der ein Gutachten über ihn erstellt. Er habe geglaubt zu spüren, was die Patienten spürten. Er habe sich verantwortlich gefühlt, die Menschen von ihrem Leiden zu befreien. Eine Frage der Zivilcourage sei es für ihn gewesen, eine moralische Pflicht.
Ein Damenkränzchen mit Kaffee und Sahnetorte, der Geburtstag einer Verwandten. Alle albern herum, nach einer halben Stunde bemerkt Anneliese Wagner, dass die Stimme ihrer Mutter fehlt. Die 80-Jährige ist in sich zusammengesunken, ihr ist schlecht, ein Notarzt kommt. Berta Giehl wird am 30. April 2003 um 15.35 Uhr ins Krankenhaus Sonthofen eingeliefert, da ist sie schon ins Koma gefallen, ein Schlaganfall. Man weiß nicht, welche Schäden zurückbleiben, sagt der Arzt.
Ein paar Stunden später ist Berta Giehl wach
, sie redet. Sie will trinken, auf die Toilette, sie fragt, wie es Günther geht, ihrem Mann. Anneliese Wagner ist erleichtert, so kennt sie ihre Mutter. Lebenslustig, kämpferisch. Sie ist ja nicht das erste Mal im Krankenhaus, die Lungenentzündung vor ein paar Wochen hat sie gut überwunden. Die Krankenschwester ist eine gute Freundin. Sie sagt, fahr nach Hause, ich passe auf. Anneliese Wagner besucht den Vater, er ist selbst ein Pflegefall. Das Handy klingelt abends, kurz vor zehn. Als Anneliese Wagner im Krankenhaus eintrifft, ist es zu spät. Berta Giehl starb um 22 Uhr, völlig überraschend. Sie war nur gut sechs Stunden in der Klinik.
Stephan L. kann sich nicht erinnern. Nicht an den ersten Patienten, den er getötet hat. Auch an die meisten anderen nicht. Er weiß nur, dass er fast jedes Mal das Gleiche getan hat: Er nahm eine Spritze und füllte sie mit einem schnell wirkenden Narkotikum. Er öffnete die Kappe des bereits gelegten Zugangs zur Vene und spritzte hinein. Das Medikament schaltet die Schutzreflexe aus, das Schmerzempfinden, das Bewusstsein. Danach zog er eine zweite Spritze auf. Zwei Ampullen Lysthenon oder eine Ampulle Esmeron. Die Mittel lassen die Muskeln völlig erschlaffen. Der Atem steht nach einer Minute still, das Sterben beginnt nach fünf Minuten. Wären die Patienten nicht narkotisiert gewesen, sie wären bei vollem Bewusstsein erstickt.
Seine Stimme tat ihr gut
. "Ich bin heute Nacht für Ihre Mutter da", sagte der Pfleger zu Marlen S. Ihre 82-jährige Mutter war mit starken Bauch- und Kopfschmerzen eingeliefert worden, ein Schlaganfall, die linke Körperhälfte war gelähmt.
"Möchten Sie Kaffee oder Wasser?", fragte Stephan L. und wartete die Antwort gar nicht ab, er brachte beides. Es war ein Mittwochabend im Juni 2004, Marlen S. wartete auf Verwandte aus Sachsen, sie wollten da sein in diesen schweren Stunden. Der Vater war vor Jahren allein gestorben im Krankenhaus. Danach hatte sich Marlen S. geschworen, "nicht mehr wegzulaufen, wenn jemand meinen Beistand braucht".
Die Mutter hat starke Schmerzen, als die Verwandten an ihrem Bett stehen. Der Pfleger sagt, er kümmere sich darum. Er spritzt ein Medikament in den Tropf und bittet die Verwandten nach draußen, weil er die Mutter umbetten wolle.
Wenn er mit seinen Opfern allein war, bezog er das Bett frisch, stellte das Kopfteil hoch, sodass sie fast aufrecht saßen. Dann öffnete er das Fenster, damit die Seele hinauskönne. Nach dem Töten habe er immer das Gefühl gehabt, dieser Mensch habe es endlich geschafft. Als Marlen S. ins Zimmer zurückdarf, ist sie überrascht. Solch ein entspanntes Gesicht ihrer Mutter hat sie noch nie gesehen. Sie ist erleichtert, wie ruhig die Mutter schläft. Die Geschwister verabreden die Wache: Nachts bleiben die Schwestern am Bett, morgens der Bruder. Marlen S. fährt ihren Bruder nach Hause, dann will sie gleich wieder zurück ins Krankenhaus. An der ersten Kreuzung klingelt das Handy, es ist der Pfleger. Ihre Mutter hatte einen Herzstillstand, der Arzt bat mich, Sie zu verständigen, kommen Sie gleich her.
Im Gang der Intensivstation kommt er ihr entgegen
. Er umarmt sie, nimmt ihre Hand. Machen Sie sich keine Vorwürfe, sagt Stephan L. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber Sie waren immer für Ihre Mutter da, auch wenn Sie im Moment des Todes nicht da waren. Er lässt ihre Hand nicht mehr los, als er sie an das Totenbett führt. Sie mochte seine Worte damals, diesen Trost. Heute füllt diese Szene ihre schlimmsten Träume.
Nach Ansicht des Gutachters hat Stephan L. aus mehreren Motiven getötet. Er habe sich nicht von seinen Patienten abgrenzen können. Er habe seine Gefühle und Ängste auf sie projiziert. Durch das Töten habe er versucht, diese Gefühle und Ängste zu beseitigen. Eine Ursache sei auch in der Persönlichkeit des Stephan L. zu sehen, in seiner Selbstbezogenheit. Er habe nicht aus Mitleid gehandelt, sondern aus Selbstmitleid, weil er unfähig gewesen sei, leidende und schwer kranke Menschen zu ertragen und zu begleiten. Zudem leide er unter einer gestörten Persönlichkeit, die Ursachen lägen in der Kindheit.
Das Leben mit der Krankheit beginnt schon vor der Geburt. Die Nachricht, der Sohn komme vier Wochen zu früh, bringt die Mutter von Stephan L. aus der Fassung. Mehrere Fruchtwasseruntersuchungen und ihre emotionale Verfassung könnten bei dem Säugling eine minimale zerebrale Dysfunktion verursacht haben, schreiben die Ärzte. Auch wenn sich der Verdacht nicht erhärtet, bekommt Stephan L. immer wieder zu hören, er habe einen kleinen Hirnschaden.
Seine Eltern lassen sich scheiden, als er zwei Jahre alt ist. Als Kind ist Stephan L. aggressiv. Bei der Oma tritt er Türen ein, im Kindergarten schlägt er die Erzieherin. Die Mutter schleppt ihn von Arzt zu Arzt, mehrere hundert Kilometer fahren sie in der Woche. Mal spricht die Mutter von einer Getreideallergie, mal von einer Störung der Feinmotorik. Die Oma bringt zu Besuch nicht Schokolade mit, sondern Tabletten. Die Krankheiten stiften Familiensinn, unterbrochen nur von den Schlägen des Stiefvaters. Stephan L. nässt ein, randaliert, kotzt den Teppich voll.
Als der Sohn sieben Jahre alt ist
, gewinnt der Vater den Streit um das Sorgerecht. Stephan L. verteidigt seine Spielsachen mit einer Handsäge, als der Vater mit einem Gerichtsvollzieher auftaucht, um ihn zu holen. Er geht schließlich mit nach Ludwigsburg, von da an wird er ruhiger. Mit Spiel- und Gesprächstherapien bekommt er seine Aggressionen in den Griff, nur eine Essstörung bleibt. Stephan L. ist 1,90 Meter groß und wiegt 145 Kilo. Er schafft die mittlere Reife mit 2,5.
Stephan findet endlich Freunde, bei der DLRG, der Wasserwacht am Neckar. Auch beim Roten Kreuz, wo er zum Sanitäter wird und jeden Sommer mit auf Freizeit fährt. Er lernt ein Mädchen kennen, als er in Ludwigsburg die Krankenpflegeschule besucht. Johanna lässt sich dort zur Kinderkrankenschwester ausbilden. Sie werden ein Paar, auch wenn die Mitschüler das kaum bemerken, weil sich die beiden nie küssen. "Ich hatte den Eindruck, Johanna zieht sich immer mehr zurück", sagt eine ehemalige Mitschülerin. Nach der Ausbildung mietet das Paar eine Wohnung im Allgäu, Gunzesried, 550 Einwohner, ein Bergdorf oberhalb von Sonthofen. Stephan L. arbeitet zunächst im Krankenhaus Kempten in der Urologie. Als er mit dem Chef nicht zurechtkommt, bewirbt er sich in Sonthofen. Seine Freundin jobbt bei einem Kinderarzt.
Johanna erzählt ihrem Freund von einem schlimmen Erlebnis in ihrer Kindheit. Sie möchte deshalb nicht mit ihm schlafen, was ihn nicht sonderlich stört. Viel mehr beschäftigen ihn Johannas Panikattacken und hysterische Anfälle. Ihre penetrante Art erinnere sehr an Stephans Mutter, sagt ein Verwandter. Als Stephan L. nicht mehr weiterweiß, nimmt er aus dem Krankenhaus mehrere Beruhigungsmittel und ein Infusionsbesteck mit. Mehrmals habe er seine Freundin gespritzt, sagt Stephan L. Er habe sie manchmal dazu gezwungen, sagt Johanna. Die Spritzen bauen Stress ab. Stephan L. hat seine Methode gefunden, unangenehme Momente des Lebens zu bewältigen.
Im Krankenhaus Sonthofen gibt es bald die ersten Mitarbeitergespräche wegen Stephan L. Er sei schlampig und verwechsle oft Tabletten, er vertrage keine Kritik und fehle häufig. Im Jahr 2003 ist Stephan L. fast jeden Monat krank geschrieben. Er sei "wie ein Aal, man kann ihn nie fassen", sagt eine Mitarbeiterin. Erst im Nachhinein fällt den Kollegen der ruppige Ton auf, in dem Stephan L. über manche Patienten sprach. Der sei wieder "abgekackt", sagte er nach Todesfällen. Nachdem eine Nonne gestorben war, soll er gesagt haben, ihre "Werkzeugkiste" habe auch nicht mehr geholfen. Gemeint war die Kette mit dem Kreuz, die sie immer trug. Stephan L. hatte die Ordensschwester selbst getötet.
Drei Wochen nach seinem ersten Arbeitstag spritzt Stephan L. den ersten Menschen tot
, eineinhalb Jahre später den letzten. Er tötet Patienten, bei denen die Ärzte das Pflegepersonal angewiesen haben, nicht mehr zu reanimieren, weil sie unheilbar krank waren. Er soll aber auch Patienten getötet haben, die auf dem Weg der Besserung waren. Wie die 73-jährige Pilar del Rio Peinador, die im Krankenzimmer mit ihrem Sohn Alfonso den nächsten Heimaturlaub in Spanien plante und schon wieder Lust aufs Rauchen hatte.
Als seine Freundin Johanna wegen eines Fieberanfalls auf seiner Station liegt, spritzt Stephan L. der Bettnachbarin eine Ampulle Lysthenon, löst gleich danach den Alarm aus. Die 76-Jährige kann gerettet werden. Stephan L. wollte auch nur erreichen, dass sie auf die Intensivstation verlegt wird. Seine Freundin hatte sich über das Röcheln der Frau beschwert, die an Speiseröhrenkrebs erkrankt war.
Stephan L. brachte Menschen um, die er schon länger betreute, aber auch solche, die er nur wenige Minuten lang gesehen hatte. Die Staatsanwaltschaft geht daher in den meisten Fällen davon aus, dass Stephan L. heimtückisch oder aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat, was nicht als Totschlag, sondern als Mord zu bestrafen wäre. Auch der Strafverteidiger Wilhelm Seitz aus Kaufbeuren, der 16 Angehörige als Nebenkläger in dem Prozess vertritt, glaubt nicht, dass Stephan L. aus Mitleid gehandelt hat. "Eine ehrliche Betroffenheit war gar nicht möglich in der kurzen Zeit, die Stephan L. bei vielen Patienten zur Verfügung stand."
Die beiden Verteidiger des Pflegers, Oliver Ahegger aus Kempten und Jürgen Fischer aus Frankfurt, verweisen dagegen auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, wonach gerade bei spontanen Entschlüssen besonders sorgfältig zu prüfen sei, ob die Tötung sich als Mord darstellt. "Mitleid kann selbstverständlich spontan entstehen", sagt Rechtsanwalt Jürgen Fischer. "Mitleid ist nicht messbar." Die Verteidiger weisen den Mordvorwurf zurück.
Die Staatsanwälte ermitteln
in einem zweiten Verfahren auch gegen einen Arzt des Krankenhauses Sonthofen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Nach den Aufzeichnungen der Station 1 wurde vom Medikament Esmeron eine Ampulle, vom Medikament Lysthenon keine einzige Ampulle eingesetzt, seitdem Stephan L. dort Dienst hatte. Die Präparate waren nur für den Notfall gelagert. In derselben Zeit bestellte das Pflegepersonal jedoch zwölf Ampullen Esmeron und 55 Ampullen Lysthenon nach, Stephan L. orderte am häufigsten. Die Ärzte gaben ihre Unterschrift.
Am schlimmsten seien die Selbstvorwürfe, etwas versäumt zu haben, sagt Ilse Trojanek vom Weißen Ring. Sie begleitet gut ein Drittel der Angehörigen, und hilft ihnen, ihre Rechte als Opfer durchzusetzen. Es brauche viel Zeit zu erkennen, dass man selbst nicht schuld sei. Am schlimmsten seien die Fragen, die man sich stellt, sagt Waltraud Schönberger, die ihre Mutter Berta Giehl verloren hat. Was, wenn der Täter einmal die Medikamente verwechselt hat, erst die Atemlähmung, dann die Narkose? Warum mussten die zehn Enkel auf diese Art ihre Oma verlieren?
Stephan L. sitzt in Untersuchungshaft
, Zelle 16, Haus D der Justizvollzugsanstalt Kempten. Vormittags steckt er Gartenschläuche zusammen, nachmittags bereitet er sich auf den Prozess vor. Er besucht den Bibelkreis und jeden Sonntag den Gottesdienst. Er redet viel mit dem Pfarrer, macht sich Sorgen um seine Zukunft. Ob er jemals wieder in Freiheit leben werde, schreibt er in einem Brief. Er fragt sich, welche Menschen er nicht mehr sehen wird, weil sie dann schon gestorben sind. Die Omi vielleicht? Sie bedeute ihm doch so viel.
Mitarbeit: Rainer Nübel