Was also folgt aus der sogenannten Flugblatt-Affäre, die Markus Söder in die Bredouille, Friedrich Merz (buchstäblich) ins Schwitzen und Hubert Aiwanger ins Gespräch gebracht hat? Die vergangenen Tage haben einige Hinweise gegeben. Folgt man der Indizienkette, stehen der CSU noch turbulente Wochen bevor.
Da wären zunächst die Zahlen. Söder redet sie als "Momentaufnahmen" klein, als "Fieberkurve" nach einer hitzigen Debatte. Aiwanger sagt nur: "Danke Bayern!" Vier Wochen vor der Landtagswahl sackt die CSU im BR-"Bayerntrend" vom Mittwoch ab, kommt demnach auf 36 Prozent. Die Freien Wähler legen auf 17 Prozent zu. Damit verfestigt sich ein Eindruck, der sich in vorherigen Erhebungen bereits abgezeichnet hatte: Des einen Tief ist des anderen Hoch, Söder verliert und Aiwanger profitiert in der Flugblatt-Affäre.
Söder ist eine Wette eingegangen, die Aiwanger gewonnen hat. Der Ministerpräsident hatte sich in der Causa auf die Rolle des gewissenhaften Landesvaters verlegt, der erst nach langer Abwägung an Aiwanger festhielt – trotz eines antisemitischen Pamphlets aus seiner Schulzeit, trotz seiner dürftigen Distanzierung und trotz mangelnder Bereitschaft, einen Fragenkatalog mit belastbaren Antworten zu versehen. Söders Kalkül, mit seinem Kurs einen Souveränitätsbonus einzufahren, ist nicht aufgegangen, Aiwangers hingegen schon. Er stilisierte sich als Opfer einer Kampagne und konnte damit mobilisieren.
Für die CSU ist das aus zwei Gründen problematisch. Erstens: Das unausgesprochene Ziel, ein Ergebnis von 40-Prozent-plus-X zu erreichen, ist kaum noch zu halten. Söder versucht die Erwartungen zu drosseln, indem er auf die neue Konkurrenz im Wahlkampf verweist – die AfD ist erst seit der letzten Wahl im Landtag vertreten. Zweitens: Trotz des ureigenen Anspruchs, dass rechts von der CSU kein Platz sein dürfe, ist genau dieser entstanden. AfD und Freie Wähler bringen es gemeinsam auf 30 Umfrageprozent. Die Christsozialen haben diesen Raum preisgegeben.
Die Abgrenzung nach Rechtsaußen wird schwieriger und könnte der CSU in der Mitte Stimmen kosten. Söders Begnadigung sollte zwar erst recht einem Märtyrer-Mythos Aiwangers vorbeugen, der auf Kosten der CSU geht. Mit seiner Entscheidung für den Freie-Wähler-Chef hat Söder möglicherweise das größere Übel verhindert. Aber er hat sich auch angreifbar gemacht: Jedes Mal, wenn Söder die rhetorische "Brandmauer" gegen Rechtsaußen hochzieht, dürfte er daran erinnert werden, Aiwanger im Amt belassen zu haben.
Söder hat sich von Aiwanger abhängig gemacht. Die Festlegung auf die "Bayernkoalition" mit den Freien Wählern sollte ihm Beinfreiheit geben, glaubhaft und ohne Rücksicht gegen die Ampel-Politik in Berlin zu poltern. Einem Bündnis mit den Grünen erteilte er früh und kategorisch eine Absage, von der SPD nahm er demonstrativ null Notiz, auf die FDP konnte er sich nicht einlassen – sie werden den Wiedereinzug in den Landtag wohl verpassen. Die einzige Alternative, die AfD, ist für die CSU keine. Söder hat sich mit seiner Festlegung auf die Freien Wähler auch Optionen genommen. Und er erleichtert es kritischen CSU-Anhängern, mal auszuscheren und für die Freien Wähler zu votieren. Sie wissen: Sie kriegen das Bündnis und Söder als Ministerpräsident auch dann, wenn sie nicht für die Christsozialen stimmen.
Das könnte Aiwanger zu einer (noch) größeren Bühne verhelfen. Im Zuge der Flugblatt-Affäre ist er erstmals ins Politiker-Beliebtheitsranking eingestiegen. Sollte er tatsächlich den Sprung in die Bundespolitik versuchen, bedroht das auch die Union: Die Freien Wähler könnten ihr Stimmen abspenstig machen, vor allem von rechts. Könnte Söder die Union als möglicher Kanzlerkandidat von CDU/CSU zusammenhalten? Offen. Seine Beliebtheitswerte – die er bei seinem ersten Anlauf in der K-Frage ins Feld führte – haben im Zuge der Causa gelitten. NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, dem ebenfalls Ambitionen aufs Kanzleramt nachgesagt werden, hat sich nun an ihm vorbeigeschoben.
Und damit zu Friedrich Merz, dem CDU-Parteivorsitzenden. Seine Reaktion auf die Flugblatt-Affäre – und Söders Umgang damit – war bemerkenswert und aufschlussreich. Bei einem gemeinsamen Bierzelt-Auftritt auf dem bayerischen Volksfest Gillamoos attestierte er Söder, die "schwierige Aufgabe" (Aiwanger hat er namentlich nicht genannt) "bravourös gelöst" zu haben. Das klang übertrieben, könnte aber dem Vorwurf vorgebeugt haben, er habe die Schwesterpartei in der Angelegenheit nicht unterstützt. Die Schuld für schlechte Wahlergebnisse wäre somit bei Söder zu suchen. Der dankte es Merz mit Häme und Spott: "Ist ja alles nass hier, Friedrich!", rief er dem schweißgebadeten CDU-Chef entgegen, als er nach ihm ans Rednerpult im Bierzelt trat. Später bot er Merz sogar an, sollte er mal "Probleme in der CDU" haben, immer in Bayern willkommen zu sein. Der Eindruck: Söder lenkt von der eigenen Schwäche ab, indem er auf die Schwäche anderer zeigt.
Am 23. September kommt es zum Stimmungstest. Beim CSU-Parteitag wird auch der Vorstand neu gewählt. Die Christsozialen werden sich hinter ihren Parteichef und Spitzenkandidaten versammeln, zumal so kurz vor der Landtagswahl. Aber wie deutlich? Schon Söders Ergebnis von 2021 (87,6 Prozent) fiel hinter das von 2019 (91,3 Prozent) zurück. Zwei Wochen später sind die Landtagswahlen. Dort könnte Söder, glaubt man den aktuellen Zahlen, ebenfalls ein Dämpfer erwarten.