Als er von Stuttgart nach Brüssel übersiedelte, war Günther Oettinger unfreiwillig zum Youtube-Star geworden. Auf der Internetseite hatten Videos mit dem baden-württembergischen Ex-Ministerpräsidenten Kultstatus, in denen der Stuttgarter mit der englischen Sprache kämpfte. Doch mit Sachkenntnis hat sich der ehemalige CDU-Spitzenpolitiker in seinem ersten Jahr als EU-Energiekommissar Respekt erarbeitet - vor allem auf Seiten der Wirtschaft. In der neu entflammten Atomkraft-Debatte könnte Oettinger zeigen, ob er auch die Umweltschützer überzeugt.
In der Gretchenfrage darf Oettinger eigentlich gar nicht mitreden. Die Kommission "respektiert die Entscheidung jedes Mitgliedstaates, ob er sich für oder gegen Nuklear-Politik entschieden hat", bekräftigte Oettingers Kabinett am Montag den Grundsatz der atompolitischen Neutralität der Kommission. Aber zumindest bei den Rahmenbedingungen für neue Akws hat der Kommissar einige Kompetenzen.
Und wo möglich, da mischt Oettinger gerne mit. Flugs berief er ein Spitzentreffen in Brüssel ein, um aus den Atomunfällen in Japan Lehren zu ziehen. Vorab verkündete er, die Sicherheitsstandards in ganz Europa müssten auf den Prüfstand. Skeptisch, ob dabei Konkretes herauskommt, zeigte sich Rebecca Harms, Chefin der Grünen-Fraktion im Europaparlament: "Er macht auch gerne Versprechen." Nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko drang Oettinger nicht durch, als er den EU-Staaten einen Stopp bei neuen Bohrungen nahelegte.
Generell gilt der 57-Jährige jedoch als Durchsetzer. So schaffte er es, das Thema Energie ganz oben auf die europäische Agenda zu setzen und einen Sonder-Gipfel zu organisieren, auch wenn dort im Februar Nordafrika und die Eurokrise nach vorne rückten. Vielen seiner Vorstellungen gaben die Staats- und Regierungschefs grünes Licht, zum Beispiel beim schnelleren Ausbau von Energie-Infrastruktur wie Gas-Pipelines und Hochspannungsleitungen.
Dass es mehr Leitungen braucht, um etwa Windkraft von der Nordsee ins Binnenland zu schaffen, gehört zu Oettingers Mantras. Dabei scheint es manchmal, als ob er jedes Transformatorenhäuschen in Europa persönlich kennt. Seine Sachkenntnis sei unbestritten, heißt es in Brüssel. "Und er drückt aufs Tempo", sagt ein europäischer Diplomat.
Kenntnisse und Tempo hindern aber nicht, dass Umweltschützer dem CDU-Mann aus Stuttgart strategische Fehler bescheinigen. Eine "kohärente Vision" vermisst Greenpeace-Experte Joris den Blanken. Oettinger bremse Klimakommissarin Connie Hedegaard aus, glaubt die Grüne Harms. Er unterschätzt die Rolle der erneuerbaren Energien, sagt Justin Wilkes vom Windkraftverband EWEA.
"Wir sind bis jetzt sehr zufrieden", sagt dagegen ein Industrie-Lobbyist. Im Gegensatz etwa zu Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes gilt Oettinger nicht als jemand, der spektakuläre Zusammenstöße mit der Wirtschaft sucht, sondern als geschickter Pragmatiker. Für "gründlicheres Arbeiten" stehe er in Brüssel, urteilt der CDU-Parteifreund und Europaabgeordnete Herbert Reul. Durch seine Reaktion auf das Atomunglück in Japan mausere Oettinger sich "zu einem der wichtigsten Kommissare", glaubt FDP-Parlamentarier Jorgo Chatzimarkakis.
Als deutscher Kommissar ist Oettinger inoffiziell auch für einen guten Draht zwischen Brüssel und Berlin mitverantwortlich. Gespannt dürfen die Betroffenen daher sein, wie er sich in die aktuelle Atomdebatte in Deutschland einschaltet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verkündete am Dienstag, dass unter anderem das Kernkraftwerk Neckarwestheim I vorübergehend stillgelegt wird - dies steht in Oettingers Heimat Baden-Württemberg.