Friedrich Merz? Alice Weidel? Sicher, alles unbequeme Gegner für Olaf Scholz. Doch nun bekommt der Kanzler noch einen hinzu – und zwar aus den eigenen Reihen: Philipp Türmer.
Der 27-Jährige wurde auf dem Bundeskongress der Jusos, der Nachwuchsorganisation der SPD, zum neuen Vorsitzenden gewählt. Er folgt auf Jessica Rosenthal, die nach drei Jahren nicht erneut kandidierte: Sie wird bald Mutter, will sich auf die Familie konzentrieren und schickte eine Videobotschaft zum Abschied nach Braunschweig.
Zwar gelten Jugendverbände traditionell als aufmüpfig, ihr neuer Vorsitzender ist jedoch aufgebracht. Mindestens. Über irrlichternde Sozialdemokraten und ihren Kanzler, die das Wesentliche aus den Augen verloren hätten (soziale Gerechtigkeit) und fatal nach rechts rücken würden (in der Migrationspolitik). Türmer in seiner Bewerbungsrede: "Hört auf, und das geht auch an Olaf, euch einzureden, dass alles in Ordnung sei!" Rumms. Rhythmisches Klatschen und lauter Jubel der 300 Delegierten.
Folgt man der Indizienkette, dürfte der studierte Ökonom aus Offenbach sowohl der Ampel als auch der SPD ganz schön unbequem werden. Türmer vertritt die Jusos im Bundesvorstand, obendrein stellt der Nachwuchs 50 Abgeordnete in der Bundestagsfraktion. Ein Machtblock, ohne den Kanzler und Koalition keine Mehrheit hätten.
"Lieber Olaf, ich bin noch nicht fertig"
Und Türmer lässt keinen Zweifel daran, dass er eine Konfrontation nicht schreckt. Zu Scholz‘ "Respekt-Wahlkampf" schleudert er in Richtung Kanzleramt: "Was ist daraus geworden? Ich bin entsetzt." Der Kampf gegen Armut: Insbesondere die FDP verhindere jeglichen sozialen Fortschritt. Die Schlangen an den Tafeln würden länger, die Schlangen vor den Rolex-Läden einfach nicht kürzer, klagt der Jungsozialist. "Verteilt endlich um, tax the fucking rich!"
Klare Ansagen, ohne Ende. Aber: "Lieber Olaf", sagt Türmer, "ich bin noch nicht fertig".
Welche Partei stelle denn den Kanzler, warum lasse man sich von den Liberalen so treiben? "Kippt endlich diese gottlose Schuldenbremse", fordert der neue Juso-Vorsitzende. Deutschland sei das einzige Land, das sich aus einer Wirtschaftskrise heraussparen wolle. Ausgerechnet jetzt, nach dem "60-Milliarden-Euro-Schuss" aus Karlsruhe, den offenbar niemand hören wolle.
Am Mittwoch hatte das Bundesverfassungsgericht den Klimafonds gekippt. Durch das kolossale Haushaltsloch stehen nun insbesondere Projekte für den Umbau zur klimaneutralen Wirtschaft zur Disposition. Türmer, sehr deutlich: "Es gibt keine grüne Null mit der schwarzen Null, und wenn dafür die gelbe Null aus dem Finanzministerium verschwinden muss." Ein FDP-Fan wird er wohl nicht mehr.

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Kurze SMS an einen anwesenden Juso: Wie ist? "Echt stark", besonders die Kritik an Scholz habe "ziemlich gut das Problem getroffen". Aua.
Am Ende zeigt das Applaus-Barometer 2 Minuten und 28 Sekunden an, für Mitbewerberin Sarah Mohamed sind es etwas weniger. Die 31-Jährige hatte sich in ihrer Rede mehr auf strukturellen Rassismus verlegt, der Partei diesen sogar indirekt vorgeworfen und ihre Biografie als People of Color und Feministin betont. Damit löste sie regelrechte Jubelstürme unter den Delegierten aus Nordrhein-Westfalen aus – ihr Landesverband ist der mit Abstand größte. Zum Vergleich: Hessen-Süd, Türmers Bezirk, ist etwa zwei Drittel kleiner. Bis zum Schluss war unklar, wer das Rennen machen würde.
Das Ergebnis: Von 298 gültigen Stimmen entfallen 162 auf Türmer, 132 auf Mohamed. Wieder kurze SMS in die vorderen Reihen: Happy? "Yes!" Aber: Türmer muss nun beide Lager im Verband hinter sich versammeln. Keine politische Schwerstarbeit, dennoch herausfordernd. Mohamed gegen Türmer war zwar ein Duell links gegen links. Doch auch der größere Landesverband Berlin klatschte vor allem für Mohamed.
Jetzt hat Scholz seinen Kühnert
Türmer scheint zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Er ist sendungsbewusst, keilt regelmäßig gegen die Bundespolitik. Nur ein Beispiel: Nach dem für viele Jusos schwer verstörenden Interview von Scholz, der düster dreinblickend vom "Spiegel"-Cover ankündigte, nun "endlich" und "im großen Stil" abschieben zu wollen, gab Türmer via X zu bedenken: Die SPD stehe nicht geschlossen dahinter, wie Scholz behauptete, und er selbst schon gar nicht. "Ich könnte kotzen bei diesem Zitat", schrieb er.
Es ist offensichtlich, dass der 27-Jährige den Verband wieder sichtbarer und lauter machen möchte, nach den schwierigen (und zwangsläufig stilleren) Corona-Jahren. Vorgängerin Rosenthal begann ihre Amtszeit 2020 so, wie sie nun geendet ist: per Video. Außerdem hat der überraschende SPD-Sieg bei den Bundestagswahlen 2021 auch die Jusos diszipliniert, vielleicht auch überrumpelt. Etwas erfahrenere Genossen im Bundestag ätzen bis heute, der Nachwuchs müsse sein Handwerk noch lernen. Sie sagen aber auch: Machtbewusst sind sie, die Jusos.
Türmer könnte das für die Ampel-Koalition sein, was der frühere Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert einst für die Große Koalition war: ein Quälgeist, der ausspricht, was viele Jungsozialisten denken – und die Mutterpartei damit vor sich hertreibt. Ein Koalitionsschreck.
Bei Kühnert war es das ungeliebte Regierungsbündnis mit der Union, welches das Profil der SPD bis zur Unkenntlichkeit schliff. Für Türmer könnte es das gestörte Verhältnis zwischen FDP und Grünen sein, das die SPD ins Korsett der Mittlerin und Moderatorin zwängte – was die Programmatik der Sozialdemokraten ebenso in Mitleidenschaft zieht.
Die Jusos behaupten nicht ohne Stolz, die Bundespartei bereits zu einem Umdenken gedrängt zu haben. Eine Reform der Schuldenbremse, höhere Steuern für Besserverdiener und Reiche – das fordern sie hier schon lange. Nun stehen diese Forderungen auch im Leitantrag der Bundespartei für den Bundesparteitag Anfang Dezember.
Dabei kann sich die SPD schon am Samstag auf etwas gefasst machen. Dann werden Co-Parteichefin Saskia Esken und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil als Gastredner in Braunschweig sein, auch der heutige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ist angekündigt.
Der Kanzler wurde auch eingeladen, hat allerdings abgesagt – schon früh, wie zu hören ist. Wegen des Erdogan-Besuchs? Ist nicht überliefert. Irritiert ist man hier trotzdem. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel sei noch zu jedem Deutschlandtag der Jungen Union – dem CDU-Pendant zu den Jusos – gekommen, heißt es hier.
Türmer versucht trotzdem eine Nachricht zu übermitteln. "Lieber Olaf, Du hattest ja keine Zeit zu uns zu kommen", sagt der Juso-Chef, nur halb enttäuscht. Falls ihn in seiner "Burg, dem Berliner Kanzleramt" noch irgendetwas erreiche: "Ändere Deinen Kurs." Der Kanzler solle den Kampf gegen Armut und Verteilungsgerechtigkeit endlich zur "Chefsache" machen.
Andernfalls brauche er im nächsten Wahlkampf nicht auf die Jusos zählen. Die Fronten sind geklärt.