Olaf Scholz ist mit überwältigender Mehrheit als Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten bestätigt worden. Scholz erhielt auf dem digitalen Bundesparteitag der SPD mehr als 500 Stimmen der Delegierten, bei nur 20 Gegenstimmen. Regieren wolle er an der Spitze einer "breiten Allianz für neuen Fortschritt". Die Presse erwartet allerdings einen schwierigen Wahlkampf für die Sozialdemokraten. Ein Überblick:
"Augsburger Allgemeine": "Verhängnisvoller als der fehlende Empathiefaktor in der Person des Kanzlerkandidaten ist seine fehlende Machtperspektive. Selbst wenn die SPD die Grünen überholte, drohte Rot-Rot-Grün verlässlich an der Linken zu scheitern, deren orthodoxer Flügel die Nato für ein Kriegsbündnis hält. Die Ampel mit Grünen und FDP wäre sowohl für die SPD, als auch für die FDP eine emotionale Herausforderung."
"Frankfurter Rundschau": "Spätestens seit 2010 ist die SPD in einer tiefen Krise – einer Krise der Anpassbarkeit in Regierungsbündnissen und der Antwortlosigkeit auf Fragen der Zukunft. Am Sonntag hat die SPD dagegen den 'Tag 1' für ihren Aufbruch proklamiert. Egal ob große Koalition, Ampelbündnis oder Grün-Rot-Rot – in keiner Regierungskonstellation sieht es so aus, als ob Olaf Scholz Kanzler werden könnte. Die Erneuerung ist nötig, aber sie kommt wahrscheinlich zu spät. Dramatisch, denn Deutschland hätte einen modernen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Interessen und sozialer Gerechtigkeit im Angesicht der Klimakrise bitter nötig."
"Tages-Anzeiger", Zürich: "Scholz’ Problem besteht darin, dass die Deutschen ihn zwar schätzen und für kompetent halten, von seiner Partei aber nur noch wenig erwarten. Ganz anders bei den Grünen. Obwohl – oder gerade weil – diese seit 2005 im Bund nicht mehr regiert haben, traut man ihnen und ihrer 40-jährigen Kandidatin viel Erneuerung zu. Und hält sie zunehmend auch für eine Alternative zur Union. Zwei weitere Widersprüche lähmen die SPD: Sie steht zwar geschlossen hinter Scholz, kann aber doch nicht vergessen machen, dass sie ihn noch vor eineinhalb Jahren nicht als ihren Chef haben wollte. Programmatisch sind die Genossen seit 2019 erheblich nach links gerückt – Scholz als ihr Kanzlerkandidat steht aber geradezu idealtypisch für den eher konservativen, pragmatischen Flügel. Ob die Wähler bei so viel Dissonanzen nochmals Lust auf diese Partei und ihren Kandidaten entwickeln, scheint eher zweifelhaft."
"Kölner Stadt-Anzeiger": "Statt der Umfragezahlen wachsen die Zweifel in der SPD. Hatten die Scholz-Gegner der früheren Jahre womöglich doch Recht? Manches spricht dafür. Wenn Scholz in einer Talkshow sitzt, spult er seine Auftritte routiniert und fehlerfrei ab. Selbst hauptberufliche Politikbeobachter tun sich mitunter aber schwer, Minuten nach einem Scholz-Auftritt die wesentlichen Aussagen zusammenzufassen. Andererseits legen die Deutschen traditionell mehr Wert auf die Kompetenz als auf den Unterhaltungsfaktor ihrer Kanzler. Anders wären die 16-jährigen Regentschaften von Angela Merkel und Helmut Kohl nicht zu erklären. Und die Kompetenz von Scholz ist unstrittig. Für die Konkurrenten Annalena Baerbock und Armin Laschet gilt das umgekehrt nicht so eindeutig."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Eine Ironie dieses Wahlkampfs steckt darin, dass die CDU just zum Auftakt in Baden-Württemberg eine Koalition mit ihrem Hauptgegner schließt, den Grünen, die ihr fast schon diktieren konnten, wie der Koalitionsvertrag auszusehen hat. Zur neuen Unübersichtlichkeit Deutschlands gehört aber auch, dass zur gleichen Zeit SPD, Grüne und FDP eine Ampelkoalition in Mainz schließen, die im Bund in weite Ferne rückt. Das liegt an der Versicherung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, dass mit den Liberalen "jegliche Steuererhöhungen" ausgeschlossen seien. Das aber, höhere Steuern zumindest für die "Reichen", gehört zu den Kernbotschaften von SPD, Grünen und natürlich der Linkspartei."
"Junge Welt": "Die SPD hat etwas mehr als 400.000 Mitglieder, das sind neun Prozent weniger als im Bundestagswahljahr 2017. Wegen der bloßen Zahl wird von einer 'Volkspartei' gesprochen. Aber: Nicht alles, was existiert, ist auch wirklich, im Sinne von: Es bewirkt noch etwas. Daran gemessen ist zu bezweifeln, dass es die SPD noch gibt. Sie befindet sich ungefähr im Zustand der französischen Monarchie kurz vor der Großen Revolution von 1789 oder des Zarismus vor den beiden russischen Revolutionen des Jahres 1917: Die Apparate funktionieren noch, aber der Zusammenbruch kam rasch und fast geräuschlos. Der Vergleich greift hoch. Die SPD ist nur Teil eines Regimes imperialistischer Machtausübung, nicht das Regime selbst."