Dürfen Spaziergänge verboten werden? Ja, zumindest werden sie es dann, wenn sie den Charakter einer Demonstration haben und dabei etwa die Ablehnung der Corona-Auflagen zum Ausdruck gebracht wird – laut oder auch schweigend. Auf diese Weise stuft die Polizei in vielen Bundesländern mittlerweile die sogenannten Spaziergänge von Gegnern der Corona-Maßnahmen ein. Das bedeutet nicht, dass die Menschen nicht protestieren dürfen, sondern, dass die Versammlungen angemeldet und unter den entsprechenden Corona-Auflagen durchgeführt werden müssen.
"Versammlungsrechtlich gibt es keine 'Spaziergänge'"
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) sagte dazu kürzlich: "Versammlungsrechtlich gibt es keine 'Spaziergänge' und bei Versammlungen gilt das Versammlungsrecht. Das grundrechtlich garantierte Freiheitsrechts zur kollektiven Meinungskundgabe gehört genauso dazu wie die Vorgaben der Versammlungsbehörden und der Polizei für die Versammlung, die konsequent umgesetzt werden." Doch das interessierte zuletzt viele "Spaziergänger" nicht sonderlich.
In München etwa wurden nun gleich mehrere verbotene Demonstrationen von Impfgegnern aufgelöst. 5000 Menschen nahmen teil, die Polizei war mit einem Großaufgebot von mehr als 1000 Beamten im Einsatz. Auch in Bayern sind "Corona-Spaziergänge" verboten. Dennoch hatte sich die Polizei vorbereitet, da Impfgegner in Chatgruppen zu dieser Form des Protests aufgerufen hatten. Eine angemeldete Versammlung wurde kurz vor Beginn vom Veranstalter abgesagt.
Katz-und-Maus-Spiel in Hamburg
Trotz der Verbote bildeten sich in der Stadt zahlreiche Gruppen. Die Einsatzkräfte hätten sie nach eigenen Angaben mit Lautsprechern auf die geltenden Regelungen hingewiesen und viele Teilnehmende direkt angesprochen. Größere Gruppen seien direkt gestoppt worden. Im Hamburg hatten sich Impfgegner mit der Polizei zu Beginn der Woche zuvor eine Art Katz-und-Maus-Spiel geliefert. Als einige "Spaziergänger" in der Hansestadt kontrolliert werden sollten, lösten sich die Ansammlungen auf den Bürgersteigen genau in dem Moment auf, als sich die Beamten näherten.
"Für derartige Spaziergänge unter freiem Himmel sind damit vor allem Anzeigepflichten und -fristen, Hygienevorgaben sowie die Maskenpflicht verbunden", heißt es bei der Hamburger Polizei nüchtern. Zudem weist sie darauf hin, dass die Leitung einer nicht angemeldeten Versammlung eine Straftat darstelle.
In der bayerischen Hauptstadt gab insgesamt mehr als 700 Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten und zwei Strafanzeigen für Menschen in verantwortlicher Rolle, außerdem mehr als 20 Strafanzeigen wegen Beleidigung, Körperverletzung, Widerstands gegen Polizeibeamte, der Aufforderung zu Straftaten oder falschen Gesundheitszeugnissen. Zudem hätten die Beamten 1300 Platzverweise ausgesprochen. In mehr als 220 Fällen habe "unmittelbarer Zwang durch Schieben und Drücken angewandt" werden müssen, zehnmal sei der Schlagstock eingesetzt worden.
Umstrittene Polizei-Ansage in Koblenz
In Koblenz hatten Polizei-Lautsprecherdurchsagen bei einem sogenannten Spaziergang für Aufregung gesorgt. Auf einem Video, das der Nachrichtenagentur DPA vorliegt, waren am Ende der Versammlung folgende Ansagen zu hören: "Wir, die Polizei, bedanken uns für den kooperativen und friedlichen Ihrerseits gezeigten Protest und die Teilnahme an diesem Spaziergang. Wir wünschen Ihnen einen schönen Weg nach Hause." In einem zweiten Video sagte ein Polizist, ein Polizeifahrzeug werde "Ihre Versammlung sehr gerne anführen, um Ihnen einen Weg durch die Stadt zu bahnen. Wir warten nur auf Ihre Kollegen, Kameraden und Versammlungsteilnehmer, die in die falsche Richtung gelaufen sind."
Die Polizeipressesprecher bestätigte die Durchsagen und sagte der DPA in Bezug zur zweiten Ansage: Das Fehlen einer Anmeldung für eine Demo rechtfertige nicht deren Auflösung, wenn sie friedlich verlaufe. "Dementsprechend wurde auch eine Gegendemonstration, welche ebenfalls nicht angemeldet war, nicht aufgelöst." Einige Politiker hatten den Sicherheitsbehörden mangelnde Unabhängigkeit vorgeworfen.
Der Grünen-Fraktionsvize im rheinland-pfälzischen Landtag, Carl-Bernhard von Heusinger, sagte dem SWR: "Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich hier um eine unangemeldete Versammlung handelte, musste sich die Polizei zumindest neutral verhalten. Das ist hier offensichtlich nicht passiert." Via Twitter reagierte die Polizei auf die Bedenken: "Die Kritik an unseren Lautsprecherdurchsagen am 27.12. in #Koblenz, die viele Menschen irritiert haben, nehmen wir sehr ernst. Wir bemühen uns, künftig eine unmissverständliche Sprache zu wählen. Klar ist: die Polizei hält sich an das Gebot der Neutralität."
Auch in Baden-Württemberg gibt es Kritik an den Sicherheitskräften. Nach einem "Spaziergang" mit rund 800 Teilnehmern in Villingen zu Beginn der Woche wurde den städtischen Behörden "Untätigkeit" vorgeworfen, da sie trotz zahlreicher Verstöße gegen die Maskenpflicht nicht eingegriffen hätten. Die Polizei werde gemeinsam mit den Versammlungsbehörden unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit auf die Einhaltung der Allgemeinverfügung achten, heißt es dazu vage in einer Mitteilung des Polizeipräsidiums Konstanz.
Die Stimmung auf den Demonstrationen ist in den vergangen Wochen spürbar aggressiver geworden. So wurde in Wolgast in Mecklenburg-Vorpommern zwei Polizisten verletzt, als ein Teilnehmer, der Schlagschutzhandschuhe getragen hatte, nach seinen Personalien gefragt wurde. Dabei sei er mit Schlägen und Tritten durch eine größere Gruppe "befreit" worden. Der Mann wurde inzwischen gefasst. Auch gegen Journalistinnen und Journalisten nimmt die Gewalt auf Anti-Corona-Demos zu. In sozialen Netzwerken berichten Medienvertreter unter dem Hashtag #ausgebrannntePresse seit einigen Tagen über Übergriffe von Demonstranten und "Spaziergängern". Anfang Dezember wurden bei einer Demonstration mehrere Journalisten angegriffen und verletzt.
Polizei warnt vor Rechtsextremen
Von wem die Gewalt im Einzelnen ausgeht, ist nicht immer einfach nachzuvollziehen, sicher aber ist, dass an den "Spaziergängen" Rechte teilnehmen. Die Braunschweiger Polizei rät daher dazu, sich deutlich von den Rechtsextremen abzugrenzen. Es sei ratsam, genau hinzusehen, mit wem man auf die Straße geht, sagte die Polizeisprecherin dem NDR. In Braunschweig hatten am Montagabend rund 1700 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen protestiert, darunter stadtbekannte Neonazis. Ein Polizist wurde dabei von einem Rechtsextremen angegriffen und leicht verletzt.
Quellen: DPA, AFP, "Tagesspiegel", NDR, "Welt" "Frankfurter Allgemeine Zeitung"