Renate Künast Grün war die Hoffnung

  • von Franziska Reich
Zu kalt, zu herzlos, zu machtverliebt: Die Grünen hadern mit sich und ihrer Führung. Ihre Spitzenfrau Renate Künast kann sie nicht aus der Krise führen - sie ist selbst Teil des Problems.

Wie sie schon dasitzt, so kerzengerade auf dem blauen Sessel, erste Reihe im Bundestag. Draußen: eisige Novemberkälte. Drinnen: heiße Luft zu Integration und Afghanistan. Und sie wirft sich zurück, windet sich, kratzt sich am Kinn, verdreht die Augen - die ganze Frau: koketter Krawall. Am Rednerpult hat sich der CSU-Abgeordnete Hartmut Koschyk aufgebaut. Er beginnt: "Frau Künast, Sie können es nicht verwinden, dass unter dieser Bundesregierung das Thema Integration ..." Und sie ruft: "Da ist nichts!" Und Koschyk fährt fort: "... endlich angekommen ist, wo es ..." Und sie ruft: "An den Stammtisch?!" Und er fährt fort: "... nämlich ins Bundeskanzleramt ..." Und sie ruft: "Wo ist denn die Bundeskanzlerin?" Sie sieht aus, als würde sie ihn am liebsten schubsen. Schmeißt den Kugelschreiber auf ihr Pult. Reißt sich an den kurzen Haaren. Opposition in persona. Antihaltung in Fleisch und Blut.

Renate Künast beherrscht die Rolle der Polit-Pubertandin perfekt. Niemand im Bundestag trägt so unverhohlen, so genüsslich zur Schau, wie bekloppt sie diese Regierung und "die Herren von der CDU" und "die Herren von der CSU, da wird es ja noch viel doller!" findet. Die Fraktionschefin gilt in ihrer Partei als gesetzt für die Spitzenkandidatur bei der Wahl 2009, als Teil einer Doppelspitze oder allein. Sie ist berühmt für ihre direkte, atemlose Art. Bei vielen beliebt. Von manchen belächelt. Zumindest bei allen bekannt. 41 Prozent der Deutschen trauen ihr zu, die Grünen aus der Krise zu führen, mehr als irgendeinem anderen Grünen - außer, natürlich, dem ewigen Gottvater Joschka Fischer. Doch was der früheren Verbraucherschutzministerin bei ihrem über fünf Jahre währenden Gepolter in Kuhställen und auf Bauerntagen noch als aufrichtig und mutig angerechnet wurde, wirkt heute schal. Pöbelei als Pose.

Sie hat den Antrag ihrer Führung zerschmettert

Vielleicht liegt das daran, dass in Zeiten einer großen Koalition das Getöse der Opposition immer wirkt wie der boshafte Gesang vom Rumpelstilzchen. Man erkennt am Klang schon den Komplex. Dafür kann Renate Künast nichts. Doch ihr Problem und das der Grünen liegt tiefer, es ist nicht nur die fehlende Macht. Erst jetzt, zwei Jahre nach dem Ende von Rot-Grün, beginnen Parteiführung und Basis mit der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft. Das Oben hat regiert - pragmatisch. Das Unten hat gehorcht - mit Unbehagen. Deutsche Soldaten in Afghanistan. Die Sheriff-Kataloge des damaligen Innenministers Otto Schily. Hartz IV. Das Oben ist mitgezuckelt. Das Unten hat die Faust in der Tasche geballt. So sind sich Führung und Basis fremd geworden. Und sie sind sich fremd geblieben in den zwei Jahren Opposition. Die CDU-Kanzlerin hat den Klimaschutz gekapert, die SPD hat die soziale Gerechtigkeit neu entdeckt, die Linkspartei hat den Pazifismus besetzt. Und wer sind die Grünen? Ewige Lakaien der SPD? Künftige Mehrheitsbeschaffer der Union?

Am Abend des 15. September, auf dem Sonderparteitag in Göttingen, da hat die Basis ihrer Führung die Gefolgschaft aufgekündigt. Sie hat der Bundestagsfraktion verboten, dem Afghanistaneinsatz noch einmal zuzustimmen. Sie hat den Antrag ihrer Führung zerschmettert. An diesem Abend vor zwei Monaten ist Renate Künast mit dem Zug nach Hause gefahren, natürlich mit dem Zug, wie denn sonst, und sie hat mit irgendwelchen Referenten im Abteil gesessen und irgendwelches Zeug gequatscht. Alle geplättet. Alles absurd. Sie hat schließlich "Ich brauch jetzt ein Bier" gesagt und zwei Runden geschmissen. Und dann - dann hat sie beschlossen: "Ich sag erst mal gar nichts mehr. Ich halt jetzt die Klappe." Das hat sie nicht laut gesagt. Das hat sie einfach nur beschlossen. An diesem Abend muss es schlimm um Renate Künast gestanden haben. Weil sie eigentlich nicht die Frau ist, die viel von wenigen Worten hält. Vorsichtig ausgedrückt. Man könnte auch sagen: Weil sie eigentlich die Frau ist, die Wortfluten liebt, zumindest ihre eigenen.

Schritt um Schritt auf dem Pfad des Machbaren

Sie ist als Tochter eines Fahrers und einer Hilfsschwester im Ruhrpott aufgewachsen. Da sprechen die Menschen in Fluten. Doch in den Tagen nach Göttingen fallen selbst Renate Künast keine Worte mehr ein. Nichts, was entschärfen könnte. Der Sonderparteitag hat offenbart, was schon vorher spürbar war. Es ging nicht um Afghanistan. Es geht um den künftigen Weg. Sie wissen nicht mehr, woher sie kommen. Sie wissen noch nicht, wohin sie wollen. Wie viel Traum? Wie viel Vernunft? Wer läuft voran? Und die "Granate Renate", wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder sie nannte, sie hat sich entschärft. Früher, bei den Berliner Grünen, da galt die Atomkraftgegnerin noch als links. Da studierte sie Jura, weil für sie Gesetze "in Paragrafen gegossene Macht" darstellten. Heute, nach ihrer Zeit als Ministerin, sagt sie von sich: "Ich begegne Problemen systematisch." Schritt um Schritt auf dem Pfad des Machbaren. Nicht visionär. Rein pragmatisch. Was auch immer das heißt. Wo auch immer sie steht. Renate Künast weiß es doch auch nicht. Die Realos haben nichts gegen sie. Die Linken haben nichts gegen sie. Doch nicht gegen sie heißt noch lange nicht für sie. Sie ist nicht in Gefahr, sie ist ohne Konkurrenz - genau das macht sie aber zum Teil des grünen Problems.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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So laut und manchmal vorlaut, so selbstbewusst und manchmal protzig die Frontfrau auch auftreten mag - im Grunde ist sie genauso ratlos, genauso verunsichert wie die anderen Kommando-Grünen. Fritz Kuhn, der ultraliberale Realo-Fraktionschef, bekommt zu spüren, dass sich auch seine Partei nach ein bisschen Sozialromantik sehnt. Reinhard Bütikofer, der bräsige Parteichef, weiß, dass auf ihn ohnehin keiner hört. Claudia Roth, die schrill mitleidende Gefühlsfundamentalistin, scheint mehr abgegriffenes Maskottchen als ernst zu nehmende Parteivorsitzende. Und Ex-Umweltminister Jürgen Trittin, den jeder für einen brillanten Taktiker und den einzig möglichen Spitzenmann neben Renate Künast hielt - der Hochgelobte hat sich in Göttingen zugrunde taktiert. Diese Chefs führen nicht. Nicht die Partei. Nicht die Anhänger. Nicht die Diskussionen. Sie führen nichts außer einen zermürbenden Kleinkrieg untereinander, wer das grüne Rudel führt. Jeder Vorteil des einen wird eifersüchtig notiert, jede Regung des anderen missgünstig belauert. Sie werden "das Pentagramm des Grauens" genannt.

"Alle haben an Joschkas unangefochtener Position mitgearbeitet"

80 Prozent der grünen Anhänger sehnen sich auch heute noch nach dem Leitwolf Joschka Fischer. Dabei ist es doch schon so lange her, dass der Held des Turnschuhs mit einem "Ciao ragazzi" in den Bundestagsaufzug stieg und damit seine Hassliebe Grün für immer verstieß. Zwei Jahre, in denen er keinen Zweifel daran ließ, dass er ihr nicht eine einzige Träne nachweint. Zwei Jahre, in denen einer neuen Figur das Vertrauen der Basis hätte zuwachsen können. Doch die Verlassene fühlt sich noch immer hilflos. Hilflos, allein und ein bisschen betrogen. Eine Demontage wie in Göttingen, so meinen viele, wäre mit einem Joschka niemals passiert. Der hätte geschnarrt. Der hätte gekämpft. Der hätte alles auf eine Karte gesetzt. Doch dazu fehlt jedem der fünf Spitzengrünen die Kraft. Und vor allem: der Mut. Wenn man Renate Künast auf die tiefe Sehnsucht nach dem glorreichsten Grünen anspricht, dann stöhnt sie auf, schnauft, verdreht die Augen und sagt: "Meine Güte, es ist doch eine Fehleinschätzung, wenn man meint, Joschka habe damals den Laden allein gerissen. Führung ist bei den Grünen immer kollektiv. Alle haben an Joschkas unangefochtener Position mitgearbeitet."

Sie regt das masslos auf. Dieses Anhimmeln. Diese Überhöhung. "Das ist doch putzig!", sagt sie dann und schüttelt den Kopf. "Putzig" ist ein Lieblingswort von ihr. Es klingt nach alberner Teenie-Schwärmerei. Doch in diesen Tagen ist bei den Grünen gar nichts mehr albern. Es geht um viel - vielleicht ums Ganze. Es sind diffuse Sehnsüchte und Ängste, die die Grünen kommende Woche auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Nürnberg begleiten werden. Früher, als sie noch mit der SPD die Regierung stellten, da haben sie sich gern "Motor der Reformen" genannt. Da hat auch Renate Künast Sätze gesagt wie: "Wir waren es schließlich, die Entlastungen für den Mittelstand und die Senkung des Spitzensteuersatzes gefordert haben." Und später, nachdem die Macht verloren war, flirtete auch sie ganz unverkrampft mit den Herren und der Dame der Union. Sagte: "Die CDU ist nicht mehr unser Schreckgespenst." Die Option eines Zusammengehens werde realer. Solche Sätze will an der Basis heute keiner mehr hören. Zu pragmatisch. Zu herzlos. Zu machtverliebt. Die Predigten von Verantwortung und Beteiligung, von Globalisierung und Gürtelschnalle klingen kalt. Zu kalt für die Stimmung im Land. Zu kalt, um endlich mal wieder bei Wahlen zu gewinnen.

Sie hat ja keine Verantwortung mehr. Sie hat frei

Und so wollen auch die Grünen auf ihrem Parteitag in Nürnberg ein bisschen Wärme verbreiten. Ein bisschen träumen. 60 Milliarden für die "aktivierende Grundsicherung", wie der Bundesvorstand beantragt? Oder doch lieber 500 Milliarden für das bedingungslose Grundeinkommen, wie es der Vorzeige-Realo-Verband Baden- Württemberg will? Egal. Sie sind ja Opposition. Es geht also nicht um Taten. Es geht ums Symbol. Darum, ob die Basis ihren Bundesvorstand endgültig fertigmacht. Mit der Zustimmung zum Grundeinkommen. Mit der Ablehnung des neuen Parteilogos. Mit irgendeinem Thema, das zum Ventil wird für den Frust über die Spitze. Wenn man Renate Künast fragt, ob sie ihren Job derzeit mag, dann sagt sie: "Regieren ist schöner." Sicher, wenn sie jetzt zufällig eine Freundin auf dem Berliner Wochenmarkt am Winterfeldplatz trifft, dann kann sie spontan mit ihr ins Kino gehen und sich zwei Stunden über die kochende Ratte im Comicfilm "Ratatouille" schlapp lachen. Sie hat ja Zeit. Und wenn sie sich über Integration, Hartz IV oder den Klimaschutz äußert, dann kann sie schöne Dinge fordern. Und wenn sie gefragt wird: "Aber Frau Künast, wie wollen Sie das alles bezahlen?", dann sagt sie einfach: "Rechnen Sie doch mal CDU, SPD oder andere nach." Sie hat ja keine Verantwortung mehr. Sie hat frei.

Doch eigentlich, und das weiß sie auch, müsste sie alles tun, um die Grünen davon abzuhalten, weiter ins Wünsch-dir-was-Nirwana abzugleiten. Sie will doch noch was. Sie will wieder regieren. Wie soll das mit einer Partei gehen, die sich zum Träumen verabschiedet hat? Die gegen Vergangenheit kämpft und Zukunft fürchtet? Renate Künast hat einmal gesagt: "Wir wollen nicht platt radikal sein, sondern radikal realistisch." Die Basis aber will vor allem eines: endlich wieder das gute Grüne spüren. Platt radikal. Und nicht realistisch.

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