SPD-Chef Martin Schulz legt sich ordentlich ins Zeug vor seinem nächsten Schicksalstag. Wenn es am Sonntag auf dem Parteitag in Bonn um das Sondierunsgergebnis geht, geht es in Wirklichkeit auch um seine politische Zukunft. Lassen die Genossen das mit der Union ausgehandelte Papier durchfallen, dürfte es für den gescheiterten Kanzlerkandidaten auch das Ende an der Spitze seiner Partei sein.
Und so tingelt Schulz seit einigen Tagen durch die Lande, um für die Zustimmung zu den Koalitionsverhandlungen, aber auch in eigener Sache, zu werben: Er besucht Bayern, Rheinland-Pfalz und allen voran den mächtigen Landesverband in Nordrhein-Westfalen. Gespräche hier, Gespräche da, zwischendurch ein Facebook-Live-Chat mit den Anhängern, Pressetermine und dabei immer eine gute Miene machen – das ist das, was man gemeinhin eine Ochsentour nennt. In diesem Fall ist es eine mit ungewissem Ausgang und mit möglicherweise schweren Folgen. Für das Land, für die SPD und für Martin Schulz. Die Republik schaut am Sonntag in die frühere Hauptstadt, stellt sich Fragen: Wird die GroKo wiederbelebt? Schickt sich die SPD selbst auf die Intensivstation?
Schicksalstag für Martin Schulz und die SPD
600 Delegierte und 45 Vorstandsmitglieder entscheiden auf dem Parteitag, ob die Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen mit der Union eintreten und damit über die Zukunft des Landes. Am Ende der möglichen Verhandlungen sollen dann alle knapp 450.000 Parteimitglieder über eine Regierungsbeteiligung der SPD abstimmen. Nach dem Schicksalstag ist vor dem Schicksalstag.
Dass es am Sonntag überhaupt grünes Licht für Koalitionsverhandlungen gibt, ist allerdings alles andere als sicher, das weiß auch Martin Schulz. Auf seiner PR-Tour durch halb Deutschland versucht er sich in Zweckoptimismus und Durchhalteparolen, schränkt aber gleichzeitig ein, dass es "schwer abzusehen" sei, was bei der Abstimmung in Bonn herauskommen wird. Und: "Ich habe den Eindruck, dass wir bei den Skeptikern große Nachdenklichkeit auslösen." Doch wie groß die Zahl dieser Skeptiker unter den Delegierten ist, das vermag im Moment keiner zu sagen.
Seit dem Ende der Sondierungen verging jedenfalls kein Tag, an dem sich niemand aus der Gruppe der GroKo-Gegner zu Wort meldete. Bei den Befürwortern sieht's allerdings genauso aus. Seeheimer Kreis, Jusos, sozialdemokratische Oberbürgermeister, Landesverband Hamburg, linker Flügel, Parteitag Sachsen-Anhalt, Ministerpräsidenten, Ortsvereine, Parteigranden: Es tönt aus allen Ecken und Enden der SPD, die das Bild einer tief zerrissenen und nervösen Partei abgibt. Am Ende kommt es aber nicht darauf an, wer am lautesten für oder gegen Schwarz-Rot wettert, sondern auf die Stimmberechtigten des Parteitags. Der Blick auf die Positionen der Landesverbände zeigt jedoch vor allem, dass sich die Partei nur in ihrer Uneinigkeit einig ist:
Landesverband | Delegierte* | Position (Stand 18. Januar 2017) |
Hamburg | 15 | Landesvorstand "einvernehmlich" für Koalitions-verhandlungen |
Niedersachsen | 81 | Landesvorstand mehrheitlich für Koalitions-verhandlungen |
Brandenburg | 10 | Landesvorstand mehrheitlich für Koalitions-verhandlungen |
Saarland | 24 | Landesvorstand mehrheitlich für Koalitions-verhandlungen |
Sachsen | 7 | Landesvorstand mehrheitlich für Koalitions-verhandlungen |
Thüringen | 7 | Landesparteitag mehrheitlich gegen Koalitions-verhandlungen (Dezember 2017) |
Sachsen-Anhalt | 6 | Landesparteitag mehrheitlich gegen Koalitions-verhandlungen |
Berlin | 23 | Landesvorstand mehrheitlich gegen Koalitions-verhandlungen |
Schleswig-Holstein Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Mecklenburg-Vorp. | 24 8 144 72 49 47 78 5 | jeweils kein offizieller Beschluss |
*Die Anzahl der Delegierten bemisst sich im Wesentlichen an der Zahl der Parteimitglieder in den einzelnen Landesverbänden. Sie werden von den Bezirksparteitagen gewählt. Zu den 600 Delegierten auf dem Bundesparteitag kommen noch 45 stimmberechtigte Vorstandsmitglieder der SPD. Allerdings seien es nicht automatisch 645 Stimmberechtigte, weil Vorstandsmitglieder zugleich auch Delegierte sein können, erklärte ein Parteisprecher dem stern. Genaue Zahlen liegen ihm nicht vor. Zudem entscheide sich oft auch erst unmittelbar vor dem Parteitag, wer als Delegierter hinfährt, zum Beispiel, wenn jemand krank wird. Dann gebe es Nachrücker. Der Einfachheit halber gehen wir im Text von 645 Stimmberechtigten aus.
Parteitagsentscheidung zur GroKo völlig offen
Es ist alles offen: Sollten sich die insgesamt 137 Delegierten, deren Landesverbände eine Empfehlung pro GroKo ausgesprochen haben, an die Beschlusslage halten und dazu der Parteivorstand geschlossen für die Aufnahme der Verhandlungen stimmen, hätte Martin Schulz mindestens 182 Mitstreiter für Verhandlungen mit der Union gefunden. 141 fehlen aber auch dann noch zur Mehrheit. Doch mit einfacher Arithmetik ist der Seelenlage der Partei nicht beizukommen. Neben den fehlenden Beschlüssen in der Hälfte der Bundesländer gibt es vor allem eine große Unsicherheit: Die Delegierten können völlig frei entscheiden, ob sie für oder gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union stimmen. Die Positionen ihrer Landesverbände sind für sie nicht bindend. Die Tragweite der Parteitagsentscheidung für das Land, aber auch für die Partei, mag den einen oder anderen Genossen tiefer in sein Inneres horchen lassen als es bei einer x-beliebigen Satzungsänderung der Fall wäre. Die Abstimmung wird so zur Gewissensentscheidung.

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Gleichwohl wird nicht jeder der Delegierten machen, was er will: Abweichlern droht Ausgrenzung, gar ein Knick in der Parteilaufbahn. Es bleibt dabei: Der Ausgang des Parteitags am Sonntagnachmittag ist vollkommen ungewiss.
So schlägt die Stunde der Netzwerker in der Partei und Martin Schulz gibt auf seiner Werbetour durch die Landesverbände den Anführer. Die verunsicherte Basis, die Skeptiker, sie brauchen Balsam: Nachbesserung der Sondierungsergebnisse? Wird es nicht geben. Eine Bestandsaufnahme nach der Hälfte der möglichen Regierungszeit? Verlässliches Regieren sieht anders aus.
Die SPD steht vor deiner Richtungsentscheidung, deren Folgen so oder so niemand absehen kann. Die Basis wird den Parteioberen das Zugeständnis abringen, in den Koalitionsverhandlungen die vielzitierte "klare Kante" zu zeigen. Es ist die vielleicht letzte Chance für Martin Schulz.
Spannung ist am Sonntag garantiert, es könnte dramatisch werden. Die Augen richten sich auf einen Ort mit besonderer Bedeutung: Das World Conference Center am Rheinufer in Bonn umfasst den früheren Plenarsaal des Deutschen Bundestags, dort stand die SPD schon einmal am Wendepunkt. Der letzte Bundeskanzler der Sozialdemokraten, Gerhard Schröder, wurde hier einst im Amt vereidigt. Er war angetreten um das Land zu verändern.
Es war vor fast 20 Jahren, am 27. Oktober 1998 – auch ein Schicksalstag der stolzen Partei.