Streit um Flugzeug-Abschuss "Die Regierung zerbricht an der inneren Sicherheit"

Im stern.de-Interview wirft Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Verteidigungsminister Jung vor, die Menschen mit verfassungsfeindlichen und realitätsfernen Äußerungen in Angst zu versetzen. Der Kampf gegen den Terror stoße im Grundgesetz an eine unantastbare Grenze.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sie kritisieren die Pläne der Unionsminister Jung und Schäuble, das Grundgesetz zu ändern. Aber würden Sie nicht auch zu jenen gehören, die laut Gesetzesänderungen forderten, sobald ein entführtes Passagierflugzeug in ein Stadion stürzen würde?
Nein. Ich fordere nur Gesetzesänderungen, die nach dem Grundgesetz und der aktuellen Rechtssprechung überhaupt diskutabel sind. Danach gibt es nur einen ganz engen Spielraum, nämlich: ein ausschließlich mit Terroristen besetztes Flugzeug abschießen zu dürfen.

Den jüngsten Vorschlag von Justizministerin Zypries - Abschusserlaubnis bei unbemannten oder nur mit Terroristen bemannten Flugzeugen - würden sie demnach unterstützen?


Frau Zypries bewegt sich mit ihrem Vorstoß zumindest im Rahmen des Grundgesetzes. Doch auch das müsste sorgfältig gesetzgeberisch geprüft werden. Für Herrn Jungs Pläne lässt das Grundgesetz keinen Spielraum. Die sind realitätsfern und versetzen die Menschen in Angst. Deswegen dokumentiert der heutige Vorstoß von Bundesjustizministerin Zypries die Zerrissenheit dieser Koalition, die auch in Fragen der inneren Sicherheit zu zerfallen droht.

Aber muss eine wehrhafte Demokratie nicht in der Lage sein, sich auch neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen? Auch wenn dafür das Grundgesetz geändert werden muss?


Natürlich muss sich eine Gesellschaft auf neue Herausforderungen einrichten. Aber nicht jede Antwort darauf ist möglich. Unser Staatswesen mit den rechtsstaatlichen Verankerungen, die wir uns aus guten Gründen nach '45 gegeben haben, darf nicht im Kern geändert werden. Gerade der diskutierte Abschuss von Flugzeugen zeigt ja, dass hier einige Politiker bereit sind, den Artikel 1 des Grundgesetzes - die Unantastbarkeit der Menschenwürde - in Frage zu stellen.

stern.de-Blog

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion und frühere Bundesjustizministerin, ist Autorin des stern.de-Blogs So ist's Recht! Zu den aktuellen Grundgesetzänderungsplänen des Verteidigungsministers schreibt sie: "Jung braucht juristische Nachhilfe." Diskutieren Sie hier mit!

Schäubles juristische Strategie besteht darin, das Verweigerungsrecht der Piloten dadurch auszuhebeln, dass er den Abschuss über Kriegsrecht rechtfertigt. Hat er hier einen gangbaren rechtlichen Weg gefunden?
Nein, dieser Weg wird nicht rechtlich gangbar sein. Zum einen kann er nach jetzt geltendem Rechtszustand keinen Soldaten anweisen, ein Flugzeug abzuschießen. Dieser Befehl darf nicht befolgt werden. Er würde zu einer Straftat auffordern, und das verbietet das Soldatengesetz. Zum anderen wird es nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts auch nicht möglich sein, die Gefahr durch ein gekapertes Passagierflugzeug zu einem Verteidigungsfall umzudefinieren.

Warum nicht? Es ist doch Krieg gegen den Terrorismus.


Wir sind nicht im Krieg. Das Bundesverfassungsgericht sagt unmissverständlich, auch die große Bedrohung durch ein entführtes Flugzeug ist kein Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. So groß die Gefährdungen sind, so sehr müssen wir sehen, was man tun kann - und was man tun darf. Es gibt in der Verfassung festgeschriebene Grundsätze mit 'Ewigkeitsgarantie', die man nicht aushebeln kann. Kein Minister, keine Regierung, keine Kanzlerin kann das.

Das heißt, sie würden letzten Endes die Toten im Flieger und im Stadion in Kauf nehmen, anstatt zumindest die Hälfte davon retten zu können?


Ich sage: Die Menschen im Flieger sind, auch wenn sie in den Händen von Terroristen sind, gleichwertige Menschen wie die am Boden. Und ich wehre mich dagegen, dass eine extreme Ausnahmesituation, die man so nicht regeln kann, als Grundlage und Normalzustand der Politik angenommen wird.

Ex-Verteidigungsminister Struck hat schon vor Jahren gesagt hat, dass er notfalls einen Flieger abschießen lassen und dann zurücktreten würde. Ist es da nicht Heuchelei, wenn er jetzt seinen Nachfolger Jung kritisiert?


Herr Struck hat lediglich das Dilemma aufgezeigt, in dem sich ein Minister in solch einer Situation befindet. Herr Jung ist sehr viel weiter gegangen. Er nimmt ein vermeintliches Recht in Anspruch, das es gar nicht gibt - nämlich das Recht auf übergesetzlichen Notstand. Er möchte, dass Piloten einen rechtswidrigen Befehl befolgen. Das hat eine ganz andere Qualität als damals die persönlichen Überlegungen von Herrn Struck.

Angela Merkel hat sich bislang nicht zu den Plänen Ihrer Minister geäußert. Kann sich eine Kanzlerin leisten, einen Streit in so einer wichtigen Frage auszusitzen?
Das kann sich eine Regierung nicht leisten. Bundeskanzlerin Merkel ist aufgefordert, endlich für Klarheit in der Regierung zu sorgen. Und sie hat Herrn Jung für seine verfassungsfeindlichen Äußerungen zur Ordnung zu rufen.

Was kann eine Opposition tun, um einen Minister hier wieder auf eine verfassungsgemäße Linie zu bringen?


Gestern wollten wir eine Regierungserklärung erreichen, die Klarheit schafft. Dem hat sich die Koalitionsfraktion verweigert. Auch eine aktuelle Stunde zu dem Thema hat kein Ergebnis gebracht. Für die nächste Sitzungswoche bereiten wir einen Antrag auf Missbilligung von Herrn Jungs Äußerungen vor. Das sind die Möglichkeiten, die wir haben. Wenn die Mehrheit des Bundestages - die Koalitionsfraktion mit den SPD-Abgeordneten - diesen Minister stützt, gelingt es der Opposition nicht, ihn aus dem Amt zu hebeln.

Interview: Florian Güßgen