Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ist eine der mächtigsten deutschen Lobbyorganisationen. Eben hat sie bewiesen, wie erfolgreich Lobbying – zumindest zeitweise – sein kann. Aber das war erkennbar gar nicht ihre Absicht.
Was ist passiert? Der BDA protestierte am 5. Juni per Brief beim Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. Dessen Behörde hatte einen Band veröffentlicht, der sich – ausgerechnet – mit dem Thema Lobbyismus beschäftigt. Herausgegeben von der Bielefelder Soziologin Bettina Zurstrassen setzten sich dort Experten mit dem Verhältnis von „Ökonomie und Gesellschaft“ auseinander. So lautet auch der Titel des Buches.
Peter Clever, einem Mitglied der BDA-Hauptgeschäftsführung, machte die Lektüre jedoch keine Freude. In dem Werk werde „ein monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf die Politik gezeichnet“, kritisierte der Lobbyist in seinem Brief an den Präsidenten der Bundeszentrale. Im Anhang fügte er eine Liste mit angeblich anstößigen Textpassagen bei. Hinweise auf die vielen bezahlten Nebentätigkeiten von Bundestagsabgeordneten besonders der CDU/CSU gefielen den BDA-Leuten genauso wenig wie Auflistungen hoher Parteispenden - aus der Wirtschaft, für die Christdemokraten. „Gar nicht erwähnt wird der – legitime und richtig verstandene – Lobbyismus anderer Gruppen, so etwa der Gewerkschaften“, klagten sie in dem Anhang zu Clevers Schreiben.
In dem von der Bundeszentrale veröffentlichten Sammelband, so Clevers Resümee, werde „ein durch und durch bestechliches System geschildert, in dem die Wirtschaft ihre Interessen in der Politik mit allen Mitteln, vor allem aber mit Geld, durchsetzt.“
Dabei geht es doch auch ohne Geld. Als wollte man mit aller Macht beweisen, wie weit der Arm der Lobbyisten reicht – war man dem Arbeitgeberverband im von Thomas de Maizière (CDU) geführten Innenministerium zu Diensten. Das Ministerium ist für die Fachaufsicht über die Bundeszentrale zuständig. Clever hatte ihm seinen Brief in Kopie übermittelt. Flugs erließ das Innenressort Mitte Juli ein Vertriebsverbot für das Buch. Seitdem ist es auf der Website der Bundeszentrale als „vergriffen“ gemeldet.
Der BDA-Brief sei „nicht der Grund“ für das Einschreiten gewesen, sondern „nur der Anlass“, beteuerte jetzt ein Sprecher des Ministeriums. Der Band habe schlicht „Fragen hinsichtlich der Pluralität“ der enthaltenen Beiträge aufgeworfen. Immerhin handele es sich um Material, das für den Schulunterricht gedacht sei.
Waren also unschuldige Kinderseelen in Gefahr? Wohl eher nicht. Die Intervention des Ministeriums war offenbar etwas zu willfährig. Denn am 16. Oktober prüfte der Wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale das umstrittene Werk – und sah keinen Grund, das Vertriebsverbot aufrechtzuerhalten.
Im Innenministerium plant man nun den geordneten Rückzug. In einer Vorlage für Minister de Maizière schlagen dessen Beamte vor, das Vertriebsverbot wieder rückgängig zu machen. Eventuell soll dem Band ein Einlageblatt beigelegt werden. Tenor: Dieses Buch repräsentiere nicht alle vorhandenen Stimmen zu dem behandelten Thema.
Viele Fragen bleiben. Da der Minister nun höchstpersönlich grünes Licht geben muss, bevor das Buch wieder aus dem Giftschrank genommen werden darf, stellt sich die Frage: War er auch über die Entscheidung informiert, das Werk auf die schwarze Liste zu setzen? Hat er sie sogar selbst getroffen?
Und warum konnte man im Innenministerium nicht einfach das Votum des Wissenschaftlichen Beirats abwarten, bevor man das Buch indizierte?
Diese Frage stellt jedenfalls der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Er protestierte dieser Tage lautstark gegen das Vertriebsverbot. Der Arbeitgeberverband, so der Vorwurf der Soziologen, habe unseriös gearbeitet. Er habe den Autoren des Buches „in skandalisierender Absicht“ Zitate zugeschrieben, die nicht von ihnen stammten, „Zitate verkürzend aus dem Kontext gerissen“ und „verfälschend dargestellt“ (siehe Nachtrag vom 27.10.2015 unten).
In der Tat beklagt der Arbeitgeberverband einige Formulierungen, die eindeutig nicht von den Autoren des Buches stammen, sondern aus Medienbeiträgen von WDR oder „Zeit“, die von ihnen als Materialien zitiert werden.
Ironischerweise hatte erst im August der Sozialökonom Till van Treeck von der Uni Duisburg-Essen der Bundeszentrale für politische Bildung eine zu große Wirtschaftsfreundlichkeit vorgeworfen. In Materialien für Lehrer und andere Multiplikatoren sei die umstrittene Austeritätspolitik der EU in Südeuropa als unverzichtbar hingestellt worden – in einem Text, dem es „unübersehbar an Pluralismus“ gemangelt habe.
In diesem Fall schritt die Behörde von Thomas de Maizière nicht ein. Und das Innenministerium blieb auch untätig, als die Bundeszentrale im Jahr 2006 ein Buch von Michael Hüther verlegte, seines Zeichens Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Das wird wiederum von der BDA des Peter Clever mitgetragen. Kritiker warfen Hüther vor, dass er als „Klassiker der Ökonomie“ vor allem konservative und liberale Volkswirte vorgestellt habe und dann die Bundeszentrale dennoch dieses Werk vertrieb.
Aber warum auch nicht? Pluralismus funktioniert anders. Es muss nicht jedes Buch alle denkbaren Standpunkte enthalten. Das wissen übrigens bereits Oberschüler. Eines Tages lernen sie es auch in Thomas de Maizières Innenministerium.
Nachtrag vom 27.10.2015: Die BDA, die wir bereits am Montag wegen der Vorwürfe der Deutschen Gesellschaft für Soziologie befragt hatten, hat heute darauf reagiert und versichert, es gebe "keine Stelle, wo sinnentstellend, verfälschend oder verkürzend zitiert wird".
Ein Hinweis in eigener Sache: Der Verfasser dieses Blogeintrags ist Autor des Buches „Die Lobby-Republik“. Die Bundeszentrale für politische Bildung will demnächst eine Lizenzausgabe dieses Titels vertreiben. Vorausgesetzt der Innenminister hat nichts dagegen.
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