Krieg in Europa – für manche ist das ja nur noch eine Frage von Tagen. Russland wolle die Ukraine überfallen, sagen die einen, und dem eigenen Reich einverleiben. Stimmt alles nicht, heißt es aus Moskau, man wolle über Sicherheitsfragen in Europa "reden". Doch die EU ist sich uneinig. Und Deutschland? Wirkt auch etwas unentschlossen. "Putin-Versteher oder Amerika-Freund – Deutschland zwischen den Fronten?" ist deshalb die Frage bei Maybrit Illner am gestrigen Abend.
Wer hat diskutiert?
- Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen), designierter Parteivorsitzender
- Martin Schulz (SPD), ex-Präsident des EU-Parlaments, früherer SPD-Chef, heute Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung
- Norbert Röttgen (CDU), Außenpolitiker, Mitglied im Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, von 2014 bis 2021 dort Vorsitzender
- Kateryna Mishchenko, ukrainische Verlegerin und Mitautorin des Maidan-Buches "Ukrainische Nächte", lebt in Kiew
- Wladislaw Below, Direktor des Zentrums für Deutschlandfragen und Wissenschaftlicher Direktor des Europa-Institutes der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau
- Ulrike Franke, Expertin für Sicherheit und Verteidigung beim Forschungsinstitut und Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR)
Wie lief die Diskussion?
Komplizierte Fragen werden ja heutzutage gerne mal auf einfache Bilder reduziert, die sich jedem vermitteln, und zwar sofort. Das ist auch im Ukraine-Konflikt so, wo 5000 Helme gerade zum vermeintlichen Symbol deutscher Unentschlossenheit und politischer Schwäche der neuen Ampelregierung stilisiert werden. Während zugleich nicht nur der hierzulande beliebte Boxer und ukrainische Politiker Vitali Klitschko, sondern auch Grünen-Politiker:innen im Fernsehen Waffenlieferungen aus Deutschland einfordern.
Und ist nicht Russland der "Aggressor", wie auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagt – die Frage von Gut und Böse, von Freund und Feind also ganz einfach zu beantworten?
Der neue Grünen-Parteichef Omid Nouripour will jedenfalls nicht über die Lieferung "letaler Waffen" reden, ex-SPD-Chef Martin Schulz schon gar nicht, und nicht einmal Röttgen fordert derlei von Deutschland ein – weniger wegen seiner Geschichte, sondern weil Deutschland "besondere Gesprächs- und Einflussmöglichkeiten" in Russland habe. Die müsse man nutzen, Waffen aus Deutschland wären da kontraproduktiv. Dass andere Waffen in die Ukraine schicken, ist für den CDU-Außenpolitiker aber "moralisch und politisch legitim". Gleichwohl ist sich die Runde einig, dass auch damit am Ende kein Krieg gegen Russland zu gewinnen sei, Schulz spricht von "Symbolpolitik", die keine Probleme löse.
"Der Westen versteht die russischen Interessen falsch"
Also wozu solche Waffenlieferungen an die Ukraine? Für die Politikwissenschaftlerin Ulrike Franke sind sie gar kein Zeichen von Eskalation sondern – ganz im Gegenteil! – eines der Deeskalation, der Abschreckung. Denn es gehe darum, auf diese Weise "die Kosten eines russischen Angriffs nach oben zu treiben". Das ist die alte Logik des Kalten Krieges und der Aufrüstungspolitik. Auch die ukrainische Verlegerin Kateryna Mishchenko fordert Deutschland auf, ihr Land zu bewaffnen – das zu verweigern, sei eine "politische Geste", und zwar eine "russlandfreundliche". Da ist sie wieder, die Symbolpolitik.
"Der Westen versteht die russischen Interessen falsch", sagt daraufhin Wladislaw Below, der in der Runde als Russlanderklärer eingeladen ist und sich heftig dagegen wehrt, Russland als "Aggressor" abzustempeln. Der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ist für ihn eine "zwingende Einladung an die USA", mit Russland "zu verhandeln". An einer "heißen Phase" der Konfrontation habe der russische Präsident Wladimir Putin kein Interesse, so Below: "Russland stellt die Ukraine nicht in Frage".
Röttgen sieht das anders: Putin sei "entschlossen", die Landkarte zu ändern, denn er finde sich nicht damit ab, dass Russland heute "keine imperiale Macht" mehr sei: "Das ist unverrückbar". Also für den CDU-Politiker. Auch Franke sagt, Russland wolle die europäische Sicherheitsarchitektur "ändern", es gehe um "Einflusssphären". Aber wollte das die NATO nicht auch, mit ihren Osterweiterungen 1999 und 2004? Ein Beitritt der Ukraine zur NATO steht aber auf absehbare Zeit nicht zur Debatte, auch da ist sich die Runde einig. Dennoch: Die heutige Infrastruktur der NATO sei für Russland "inakzeptabel", sagt Below, und dass Russland keine Raketen kurz hinter seinen Landesgrenzen stationiert sehen wolle. Below sieht Russland von der NATO bedroht, nicht umgekehrt.

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Wird Nordstream 2 zur Waffe?
Und was ist nun mit den viel zitierten diplomatischen Lösungen? Die EU jedenfalls spielt weder bei der Schulz noch bei Röttgen in der Debatte eine echte Rolle, wenn es um Konfliktlösungen geht – "Putin nimmt die EU nicht ernst", sagt der frühere Präsident des EU-Parlaments, und auch der CDU-Politiker sieht das so. Er setzt in alter nationalstaatlicher Tradition auf die einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem auf die starken, Frankreich also, und Deutschland. Nur, von unseren "besonderen Gesprächs- und Einflussmöglichkeiten" sei eben bisher nicht viel zu merken gewesen, moniert Franke: "Deutschlands Ansehen hat sehr gelitten".
Vielleicht geht es aber auch gar nicht nur um Krieg und Frieden, um Waffen und die politische Landkarte. Sondern um Energie: Omid Nouripour hat Angst, russische Gaslieferungen "könnten eine Waffe sein" – dabei seien sie das nicht mal im Kalten Krieg gewesen. Und was ist mit dem hierzulande so umstrittenen, von den bisherigen Bundesregierungen aber geförderten Gaspipeline-Projekt "Nordstream 2"? Erklärt das vielleicht die deutsche Haltung in dem Konflikt? "Die Debatte darauf zu reduzieren ist ein Fehler", sagt Schulz, dessen Partei ja eher dafür war – anders als Röttgen, der das Vorhaben als "antieuropäisches Projekt" geißelt, ja: als "schädlich". Und die Grünen waren eh dagegen. Deutschland brauche eine "klare Position", sagt Frau Franke.
Die Erkenntnisse
Wenn es um wirtschaftliche Hilfen für die Ukraine geht, ist Deutschland weltweit führend: Seit 2014 hat Deutschland die Ukraine insgesamt mit über 1,8 Milliarden Euro unterstützt und gehört zu den größten bilateralen Gebern humanitärer Hilfe dort – seit 2014 waren das rund 150 Millionen Euro. Es gehört zu den wichtigsten Handels- und Investitionspartnern der Ukraine und ist das zweitwichtigste Herkunftsland ukrainischer Importe und ein wichtiger Absatzmarkt für ukrainische Exporte.
Fazit
"Was will Putin?" fragt Norbert Röttgen, und es ist keine rhetorische Frage: "Er weiß es. Wir wissen es nicht". Doch das Fazit der Debatte ist auch: Deutschland muss sich überlegen, was es will.