Nun lässt sich im Nachhinein freilich darüber diskutieren, was Olaf Scholz bei seinem lang erwarteten Besuch von tatsächlichem Gewicht für die Ukraine im Gepäck hatte, aber so viel ließ sich schon davor festhalten: Der erste Politiker von Rang und Namen, der ins Kriegsgebiet reist, war der Bundeskanzler gewiss nicht.
Im Nachtzug war der Nachzügler nach Kiew gefahren, für Kritiker mit einer Verspätung von mehreren Wochen oder gar Monaten. Kaum ein Text zu dem bedeutungsvollen Trip, dem viele Hürden vorausgingen, kam daher ohne das Bonmot aus, dass in den Gängen des Sonderzuges ein Werbeplakat aushängt, angebracht von der ukrainischen Bahngesellschaft: "Eisenbahn-Diplomatie", steht darauf, mit Fotos von Spitzenpolitikern, die vor Scholz jene Gleise schon genommen hatten. Es sind einige.
Schon vor Scholz, Macron und Draghi: Diese mächtigen Frauen und Männer besuchen die Ukraine mitten im Krieg

Lange hatte Scholz gezögert, überhaupt eine solche Reise anzutreten. Zunächst musste eine Reiserangelei um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beigelegt werden, später erklärte der Kanzler, er werde sich "nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen", sondern wenn, "dann geht es immer um ganz konkrete Dinge".
Ganz konkret hat sich Scholz schließlich dafür stark gemacht, dass die Ukraine Beitrittskandidat für die Europäische Union wird – wenngleich mit für ihn typisch unkonkreten Worten: "Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine", sagte der Kanzler in Kiew. Geschenkt. Sehr genau vernommen wurde jedoch, dass Scholz keine Zusage für weitere schwere Waffenlieferungen machte, wie es die Ukraine im Vorfeld forderte. EU ja, Panzer nein – eine doppelte Botschaft, die auch für Enttäuschung sorgte.
Das war zu erwarten. Scholz hatte mit seinem Anspruch, nur für "ganz konkrete Dinge" in die Ukraine zu reisen, hohe Erwartungen geweckt, die praktisch nur enttäuscht werden konnten. Mit jedem Tag, an dem die Reise nicht stattfand, lag die Messlatte wieder ein paar Zentimeter höher. Doch gibt es ein weiteres Ergebnis des Scholz-Besuchs, das sich (noch) nicht messen lässt.
Olaf Scholz erlebt die "Brutalität"
Der Kanzler hat mit eigenen Augen gesehen, vor Ort erlebt, was der russische Angriffskrieg mit der Ukraine anrichtet. Er war im zerstörten Irpin, sah die "Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist", wie er sagte. Die Zerstörungen in Irpin seien ein "ganz wichtiges Mahnmal" dafür, dass etwas zu tun sei.

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Seine versteinerte Mimik sprach Bände, so auch die seiner Mitreisenden. Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron redete im Angesicht der Zerstörung von einem "Massaker" und "Kriegsverbrechen", Italiens Ministerpräsident Mario Draghi versprach: "Wir bauen alles wieder auf."

Während des Besuchs wurde zwei Mal der Luftalarm ausgelöst. Bei der abschließenden Pressekonferenz hörten die EU-Staatschefs offenbar ein Grollen am Himmel, das sie zu irritierten Blicken veranlasste.
Der Kanzler hat also einen Eindruck davon bekommen, was die Ukraine seit nunmehr 115 Tagen durchlebt, ohne absehbares Ende in Sicht. Das kann einen Unterschied machen, wie vorangegangene Besuche zeigten.
Nachdem der damalige Grünen-Co-Chef und heutige Vizekanzler Robert Habeck im Mai 2021 die Frontlinie in der Ostukraine besuchte, forderte er Waffenlieferungen an die Ukraine – wofür er sich seinerzeit scharfer Kritik ausgesetzt sah. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die als erstes deutsches Regierungsmitglied nach Kriegsausbruch in das Land reiste, fand zuletzt jene Worte, die Scholz in dieser Deutlichkeit bis heute nicht über die Lippen gehen: "Die Ukraine muss gewinnen."
Zuvor reisten die Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse für Verteidigung (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP), Auswärtiges (Michael Roth, SPD) und Europa (Anton Hofreiter, Grüne) ins Kriegsgebiet – vor allem Strack-Zimmermann und Hofreiter werden seitdem nicht müde, auf militärische Hilfe für die Ukraine zu drängen und den Kanzler für seinen Kurs zu kritisieren.
Kurzum: Sie alle hat der Besuch in der Ukraine offenkundig in ihrer Haltung bestärkt, ihre Entschlossenheit verstärkt – während Scholz im direkten Kontrast abermals als Zögerer und Zauderer wahrgenommen wurde.
Zwar war sein Besuch nach Kiew auch ein Fototermin, zwangsläufig. Aber vielleicht war der Besuch auch ein Bekenntnis, dass ein Fototermin in einem zerbombten Kriegsgebiet von symbolischer Strahlkraft sein kann. Über die offiziellen Social-Media-Kanäle des Kanzlers wurden immerhin zehn Bilder von der Reise verbreitet, drei auf Twitter, sechs auf Instagram und eins auf Facebook. Welche Strahlkraft der Besuch noch auf Scholz entwickeln könnte, wird sich zeigen.