Nun also doch: Olaf Scholz ist in Kiew. Im Nachtzug erreichten der Bundeskanzler und seine Amtskollegen aus Italien und Frankreich, Mario Draghi und Emmanuel Macron, die ukrainische Hauptstadt – mit mehreren Wochen Verspätung, dürften Kritiker ulken. Die Ukraine knüpft entsprechend hohe Erwartungen an den hohen Besuch.
Lange hatte der Kanzler gezögert, eine solche Reise überhaupt anzutreten. Zunächst musste eine Reiserangelei um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beigelegt werden, später erklärte der Kanzler, er werde sich "nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes rein und raus mit einem Fototermin was machen", sondern wenn, "dann geht es immer um ganz konkrete Dinge."
Was sich die Ukraine Olaf Scholz erwartet…
"Wir möchten auch nicht, dass er nur zu einem Fototermin kommt", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang der Woche in einem ZDF-Interview – und äußerte gleich mehrere Erwartungen an Scholz und seine Reisegruppe. Ein Überblick:
- Waffenlieferungen. "Wir hoffen auf die militärische Unterstützung der Ukraine seitens Deutschland", sagte Selenskyj. Ein Berater des Präsidenten hatte kürzlich eine Wunschliste vorgelegt, welche Waffen im Abwehrkampf gegen die russischen Streitkräfte nötig seien: 1000 schwere Artilleriegeschütze (Haubitzen), 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen. Selenskyj selbst hat immer wieder die Lieferung moderner Luftabwehrsysteme gefordert. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, forderte Scholz auf, beim heutigen Besuch weitreichenden Lieferungen zuzusagen. Man erwarte in erster Linie, dass der Kanzler endlich grünes Licht für die erbetenen 88 Leopard-1-Kampfpanzer und 100 Marder-Schützenpanzer gebe, die der Rheinmetall-Konzern sofort liefern könne. Zudem müsse Scholz schwere Waffen aus den Beständen der Bundeswehr freigeben.
- EU-Beitritt. "Darüber hinaus erwarte ich, dass er (Scholz, Anm. d. Red.) uns persönlich unterstützt und dass er persönlich zuversichtlich ist, dass die Ukraine der EU angehören kann", so Selenskyj im ZDF, "und dass der Status eines Beitrittskandidaten der Ukraine bereits im Juni verliehen wird." Die Ukraine dringt darauf, dass die Europäische Union sie nächste Woche beim Gipfel in Brüssel zum Beitrittskandidaten erklärt. Die Kommission will diese Woche ihre Empfehlung abgeben. Behördenchefin Ursula von der Leyen signalisierte bereits Zustimmung. Allerdings muss die Entscheidung einstimmig von allen Staats- und Regierungschefs der EU getroffen werden. Italiens Ministerpräsident Draghi zählt zu den Befürwortern des Kandidatenstatus, Scholz und Macron äußerten sich zuletzt skeptisch.
- Klare Positionierung gegen Russland. "Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt", forderte Selenskyj. Der Kanzler und seine Regierung müssten sich entscheiden: "Es darf kein Spagat versucht werden zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland, sondern man muss für sich wählen, wo man die Prioritäten setzt." Damit dürfte Selenskyj die wachsweichen Formulierung von Scholz gemeint haben, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine nicht verlieren – ohne jedoch explizit von einem Sieg gegen den Aggressor zu sprechen. Hinzu kommt der immer wieder geäußerte Vorwurf, Deutschland agiere zu zögerlich bei Waffenlieferungen.
…und was sie nicht will
Unterdessen formulierte die Ukraine auch, was sie nicht will – von dem Besuch aber erwartet. Oder eher befürchtet. So wies Präsidentenberater Oleksiy Arestovych vorauseilend einen möglichen Friedensplan nach dem Vorbild der Minsker Vereinbarung zur Befriedung der Ostukraine zurück. "Ich denke, sie werden versuchen, uns zu einem Friedensabkommen zu drängen, wegen der Lebensmittelprobleme", sagte Arestovych vor dem Besuch der EU-Staatschefs zur "Bild"-Zeitung.
"Ich fürchte, sie werden versuchen, ein Minsk III zu erreichen. Sie werden sagen, dass wir den Krieg beenden müssen, der Ernährungsprobleme und wirtschaftliche Probleme verursacht, dass Russen und Ukrainer sterben, dass wir das Gesicht von Herrn Putin wahren müssen, dass die Russen Fehler gemacht haben, dass wir ihnen verzeihen müssen und ihnen eine Chance geben müssen, in die Weltgesellschaft zurückzukehren." Das sei ein Problem für die Ukraine, so Arestovych.
Im Laufe des Tages ist mit einem gemeinsamen Auftritt des Gespanns zu rechnen. Noch bei der Anreise erklärte Scholz, welche Signale das Trio mit dem Besuch senden wolle: "Wir wollen aber nicht nur Solidarität demonstrieren, sondern auch versichern, dass die Hilfe, die wir organisieren, finanziell, humanitär, aber auch wenn es um Waffen geht, fortgesetzt werden wird", so der Kanzler. Man werde die Unterstützung so lange fortsetzen, "wie das nötig ist für den Unabhängigkeitskampf der Ukraine".
Frankreichs Präsident Macron sagte bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof von Kiew, es gehe um eine "Botschaft der europäischen Einheit, adressiert an die Ukrainerinnen und Ukrainer, sowie der Unterstützung, um zugleich über die Gegenwart und Zukunft zu sprechen, weil wir wissen, dass die nächsten Wochen schwierig werden".
Zumindest eine Erwartung haben Scholz & Co. bereits erfüllt: Die Kritik an der ausbleibenden Reise nach Kiew wird ein Ende haben.