Zwei Dinge lassen sich am Montagabend festhalten. Erstens: Deutschland und Frankreich stehen fest an der Seite der Ukraine. Zweitens: Der ukrainische Präsident erhofft sich mehr.
Aber eins nach dem anderen.
Es war ein symbolträchtiger Tag, in vielerlei Hinsicht. Zunächst hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Emmanuel Macron mit militärischen Ehren im Kanzleramt empfangen. Es war die erste Auslandsreise des französischen Präsidenten seit seiner Wiederwahl, die Botschaft des Besuchs entsprechend gesetzt: Die deutsch-französische Freundschaft steht dem strahlenden Wetter in Berlin in nichts nach. Auch Scholz unternahm seine erste Reise als Kanzler in die französische Hauptstadt. Fünf Monate liegen zwischen den beiden Antrittsbesuchen, manche würden sogar eine "Zeitenwende" sagen. So oder so: Die Welt ist seitdem eine andere.
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Wenn der ukrainische Präsident über den Terminkalender des Kanzlers walten würde, dann hätte Scholz den 9. Mai in der Ukraine verbracht. Wolodymyr Selenskyj hatte ihn für diesen Tag nach Kiew eingeladen, freilich nicht ohne Hintergedanken: Russland feierte den "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland, Präsident Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine. Entgegen aller Spekulationen, das deutsch-französische Gespann könnte gemeinsam nach Kiew aufbrechen, machten sich Macron und Scholz zum Brandenburger Tor auf, das in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt wurde (wie der Eiffelturm in Paris übrigens auch).
Sonst noch etwas? Ach ja, es wurde auch "Europatag" gefeiert, sozusagen die Geburtsstunde der Europäischen Union. Wie gesagt: Es war ein symbolträchtiger Tag. Und das Kommunikationstalent Präsident Selenskyj hatte passende Neuigkeiten parat.
"Wir dürfen nie wieder leere Versprechungen machen"
"Heute haben wir auf unserem Weg in die Europäische Union einen weiteren Schritt gemacht, einen wichtigen und nicht nur formalen", sagte er am Montagabend in seiner täglichen Videoansprache. Sein Land habe die zweite Hälfte der Antworten auf den Fragebogen übergeben, den jeder Staat für den Mitgliedschaftsantrag ausfüllen muss. "Das dauert üblicherweise Monate, aber wir haben das innerhalb von Wochen erledigt", so Selenskyj. Schon im Juni rechne er mit einer positiven Antwort und dem Status des Beitrittskandidaten.
Sollte die Ukraine der EU beitreten? Die Debatte ist nicht neu, sie wird seit Jahren geführt. Mit dem russischen Angriffskrieg hatte die Frage allerdings an neuer Dringlichkeit gewonnen. Schon wenige Tage nach der Invasion drängte Selenskyj auf eine "unverzügliche Aufnahme", seitdem wird rege über einen raschen Beitritt diskutiert. "Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns, sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende Februar.
Seither wird die Liste der Befürworter immer länger, zuletzt hatte sich Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) nach ihrem Besuch im Kriegsgebiet für einen baldigen EU-Beitritt des Landes ausgesprochen. Doch das Problem bleibt: Rasch wird's wohl nicht gehen.
Das hat mehrere Gründe, technische wie politische. Die Kriterien für einen Beitritt sind detailliert ausbuchstabiert, eine Mitgliedschaft im Eilverfahren ist praktisch ausgeschlossen. "Nach den europäischen Verträgen kann jedes europäische Land, das die Werte der EU teilt, einen Aufnahmeantrag stellen", sagte Gunther Krichbaum, der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, Anfang März zum stern. "Das gilt natürlich auch für die Ukraine." Allerdings sei kein EU-Beitrittsverfahren in der Schnelle möglich. "Das Verfahren verteilt sich – je nach Beitrittsland – auf bis zu 35 Kapitel. Dabei geht es etwa um innen- und wirtschaftspolitische Kriterien, die für eine Aufnahme erfüllt sein müssen. Wenn die Bedingungen erfüllt sind, werden die Kapitel nach um nach geschlossen."
Beitrittskandidaten werden in einem langwierigen Prozess an die EU herangeführt, sodass die nötigen Reformen und Anpassungen an den Rechtsrahmen der EU vorgenommen werden können. Für eine Aufnahme muss sich ein Bewerberland etwa als stabile und rechtsstaatliche Demokratie erweisen, aber auch über eine funktionsfähige und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verfügen – um nur einige der "Kopenhagener Kriterien" zu nennen, die den Beitritt regeln. Die Republik Nordmazedonien, derzeit eines von insgesamt fünf Kandidatenländern, wartet schon seit 2005 auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen.
Die Debatte um eine rasche EU-Mitgliedschaft der Ukraine weckt daher falsche Erwartungen. Und so mahnte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Montag: "Wir dürfen nie wieder leere Versprechungen machen." Zwar gehöre die Ukraine "zum Haus Europa", doch fügte sie auf eine Frage nach dem EU-Beitritt hinzu: "Wir wissen nicht, wann der Schritt erfolgen kann und wie er erfolgen kann, weil sie gerade in einem furchtbaren Krieg sind."
Ein Entgegenkommen?
Auch Frankreichs Präsident Macron, der allerhand Reformen für die europäische Staatengemeinschaft im Sinn hat, dämpfte die Erwartungen. Das Verfahren für einen EU-Beitritt könne "Jahrzehnte" dauern, sagte er am Montag im Europaparlament in Straßburg vor seinem Besuch in Berlin.
Stattdessen schlug er die Schaffung einer "europäischen politischen Gemeinschaft" für die Ukraine und andere beitrittswillige Länder vor. Sie könne "einen neuen Raum für politische Zusammenarbeit, Sicherheit und Kooperation ermöglichen", sagte der Staatschef.

Mit Details konnte Macron zwar noch nicht aufwarten, doch schien der Präsident – der seine Redezeit im EU-Parlament konsequent überzog – von seiner Idee schwer angetan: Ein Staatenbund, so ist es wohl gedacht, der als eine Art Vorstufe um die EU herum gebaut werden könnte. Bundeskanzler Scholz sprach später in Berlin jedenfalls von einem "sehr interessanten Vorschlag", den Macron da gemacht habe.
Die EU-Kommission will ihre offizielle Stellungnahme zum EU-Beitrittsantrag der Ukraine voraussichtlich im Juni abgeben, wie Kommissionspräsidentin Von der Leyen ankündigte. Sollte Brüssel den 27 Mitgliedstaaten einen Kandidatenstatus für die Ukraine empfehlen – und sollten alle Länder dem zustimmen – könnten die eigentlichen Beitrittsverhandlungen beginnen.
Ganz gleich, wie das Ergebnis ausfallen sollte: "Wir sind uns einig, die Ukraine gehört zur europäischen Familie", sagte Bundeskanzler Scholz. "Wir arbeiten daran, ihren Weg in unser gemeinsames Europa weiter zu begleiten."