Es ist in diesen Zeiten ein mahnendes Beispiel: 1930 beteiligte sich die Hitler-Partei NSDAP erstmals in Deutschland an einer Landesregierung. In Thüringen gingen die Faschisten damals eine Koalition mit vier weiteren Parteien ein und sicherten sich ihren ersten Zugriff auf die Macht in der taumelnden Weimarer Republik. 15 Jahre später lag Deutschland am Boden, vor allem moralisch. Die Nationalsozialisten hatten die Demokratie abgeschafft und den größten Zivilisationsbruch der Geschichte herbeigeführt.
Es ist wohl auch dieser Blick zurück in die Geschichte, der Thüringens Innenminister Georg Maier fast ein Jahrhundert später schaudern lässt. "Ich habe manchmal das Gefühl, wir schlafwandeln in ein ziemliches Desaster hinein und wachen am 2. September in einem autoritären System auf", sagt der SPD-Politiker der "Süddeutschen Zeitung" vom Donnerstag.
AfD laut Umfragen stärkste Kraft in Thüringen
Maier schaut dabei auf die Landtagswahl im kommenden Jahr. Aus ihr könnte ein Rechtsradikaler als Ministerpräsident hervorgehen und Menschenfeindlichkeit damit zum Regierungsgeschäft werden. Die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestufte AfD und ihr Landeschef Björn Höcke stehen acht Monate vor der Wahl in allen Umfragen an erster Stelle – mit bis zu 34 Prozent der Stimmen. "Die Menschen wählen die AfD mittlerweile nicht mehr als Protestpartei", meint Maier. "Ein Großteil der Wähler ist inzwischen überzeugt von ihrer Haltung."
Und obwohl alle demokratischen Parteien unisono ankündigen, die AfD nicht in ein Regierungsamt hieven zu wollen, könnte sie nach der Wahl erheblichen Einfluss auf die Politik nehmen – und unter Umständen sogar den Ministerpräsidenten des Freistaates stellen. "Man muss sich vor Augen führen, dass die AfD mit einem Drittel der Stimmen verhindern könnte, dass die Verfassung geändert wird oder Richter gewählt werden", skizziert Maier. "Und sie hätte als stärkste Fraktion den Anspruch, den Parlamentspräsidenten zu stellen, damit könnte sie beispielsweise den wissenschaftlichen Dienst kontrollieren und hätte das Verfahren zur Wahl des Ministerpräsidenten in der Hand."

Zurzeit sieht die Verfassung Thüringens bei der Wahl des Ministerpräsidenten maximal drei Wahlgänge im Landtag vor. In den ersten beiden muss ein Kandidat die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments hinter sich bringen, um in die Staatskanzlei einzuziehen. "Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält", heißt es in der Landesverfassung. Diese Formulierung "lässt Fragen offen", meint Innenminister Maier und zeichnet den Weg zu einem möglichen AfD-Ministerpräsidenten vor. "Wenn nur ein Kandidat antritt, wäre es theoretisch möglich, dass der mit einer einzigen Ja-Stimme gewählt wäre, obwohl alle anderen Abgeordneten mit Nein stimmen oder sich enthalten."
Verfassung "wetterfest" machen
Um Klarheit zu schaffen und die Verfassung "wetterfest" zu machen, wie Maier es ausdrückt, sollte der Landtag "sehr schnell" die Verfassung ändern. "Ich kann einfach nicht begreifen, warum wir erst mal den Karren voll gegen die Wand fahren müssen, damit alle wach werden."

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Allein: Eine Novelle der Verfassung wird im Landtag noch nicht beraten. Und die aktuelle Regierungskoalition von Linkspartei, SPD und Grünen verfügt im Parlament nicht über die nötige Zweidrittelmehrheit und wäre auf Unterstützung der CDU angewiesen. Die Christdemokraten wollen jedoch lieber den Verfassungsgerichtshof den aktuellen Passus und dessen Anwendung prüfen lassen. Auch die Linkspartei steht einer Verfassungsänderung skeptisch gegenüber.
Gäbe es keinen gemeinsamen Plan der Demokraten, liefe die Zeit für die AfD und Björn Höcke. Denkbar ist sogar, dass sie im September die absolute Mehrheit erlangen, sollten Grüne und FDP aus dem Erfurter Landtag fliegen und die AfD weiter dazugewinnen. Von einem drohenden "Polit-Beben" im Osten schreibt die Nachrichtenagentur DPA. Schließlich schickt sich die AfD auch an, im kommenden Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg zu triumphieren. Zum ersten Mal seit 1945 könnten Rechtsextreme damit in Deutschland in Regierungsverantwortung gelangen. Nicht nur der Blick in die Geschichte macht Thüringens Innenminister Georg Maier nachdenklich, auch der in die Zukunft. Er sagt: "Wir sind in der Demokratie sehr nah am Kipppunkt. Wenn nicht schon drüber."
Quellen: "Süddeutsche Zeitung", Verfassung des Freistaates Thüringen, Nachrichtenagentur DPA