Zuwanderungsgesetz "Historische Wende"

Selten hat ein Gesetzgebungsverfahren so lange gedauert. Am Schluss waren alle zufrieden, dass die mühselige Arbeit am Zuwanderungsgesetz in einem All-Parteien-Kompromiss abgeschlossen werden konnte.

Die Vergangenheit interessierte Bundesinnenminister Otto Schily nicht mehr. "Wir haben jetzt keinen Bedarf mehr, zurückzuschauen", sagte der SPD-Politiker am Donnerstag, als er gemeinsam mit dem saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller und dem bayerischen Innenminister Günther Beckstein vor die Presse trat, um den Schlussstrich unter den Zuwanderungsstreit zu ziehen.

Seit Jahren ist die grundlegende Neuregelung der Einwanderung nach Deutschland das zentrale Projekt Schilys. Seit Beginn der Debatte Anfang 2000 wurden mindestens ein Dutzend Parteikonzepte, Kommissionspapiere und Gesetzentwürfe zu dem Thema produziert - und wieder verworfen. Ungezählte Tage und Nächte verbrachte Schily mit den Experten von Grünen und Opposition auf der Suche nach einem Kompromiss, stundenlang wurde dabei um einzelne Formulierungen gerungen.

"Wir haben eine Einigung erzielt"

Am Donnerstag konnte der Innenminister nach eineinhalbstündigen Abschlussberatungen mit den Unterhändlern der Union endlich verkünden, was zwischenzeitlich kaum noch für möglich gehalten wurde. "Wir hatten heute die letzte Sitzung dieser Art", sagte er erleichtert. "Wir haben eine Einigung erzielt."

Schily, Müller und Beckstein waren damit beauftragt worden, den vor drei Wochen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Oppositionsspitzen getroffenen Kompromiss auszuformulieren. Überraschungen gab es dabei nicht mehr. Beim letzten offenen Punkt, der Finanzierung der Integrationskurse für Einwanderer und bereits in Deutschland lebende Ausländer gab sich Schily großzügig. Die Kosten von mehr als 200 Millionen Euro jährlich übernimmt der Bund komplett. In anderen Punkten hatte der Innenminister schon vorher zurückstecken müssen. Was zählt, sei aber der Vergleich des Kompromisses mit der bestehenden Rechtslage, hatte Schily immer betont. Und dabei zog er am Donnerstag eine eindeutig positiv Bilanz: Das Gesetz bedeute eine "massive Verbesserung" zum geltenden Recht.

Vier Stunden nach dem Innenminister trat Grünen-Chef Reinhard Bütikofer in der Berliner Parteizentrale vor die Presse, um seine Einschätzung zum Kompromiss abzugeben. Auch er maß dem Projekt eine historische Dimension bei - auch wenn der Kompromiss "ein bisschen stolpernd und in zu kleinen Trippelschritten" daher komme.

Noch Anfang Mai hatte Bütikofer an gleicher Stelle den Ausstieg der Grünen aus den Verhandlungen mit der Opposition erklärt und das Zuwanderungsgesetz damit an den Rand des Scheiterns gebracht. "Das Spiel ist aus", hatte er damals ohne Absprache mit dem Koalitionspartner verkündet.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Ziehen der Reißleine"

Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck verteidigte diese Strategie am Donnerstag. Mit dem "Ziehen der Reißleine" hätten die Grünen den Kompromiss erst möglich gemacht. Befürchtungen, die Basis könnte angesichts der Zugeständnisse an die Union noch auf die Barrikaden gehen, trat die Parteispitze entgegen. Er habe nur positive Signale aus den Landesverbänden erhalten, sagte Bütikofer.

Auch aus der CSU droht dem Gesetz wahrscheinlich keine Gefahr mehr. Die Innenexperten der Landesgruppe im Bundestag, aus der zuvor kritische Töne zu hören waren, stellten sich hinter den Kompromiss. Beckstein wollte zwar "die eine oder andere Gegenstimme" der CSU nicht ausschließen. Er sei sich aber "sicher, dass alle maßgeblichen Kräfte zustimmen werden". Ähnlich äußerte sich Parteichef Edmund Stoiber. "Vieles von dem, was jetzt vereinbart worden ist, hätte schon früher vereinbart werden sollen", sagte er.

Am 30. Juni stimmt der Vermittlungsausschuss über den Kompromiss ab, am 9. Juli entscheiden Bundestag und Bundesrat. Wenn alles läuft wie erwartet, tritt das Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2005 in Kraft - fast genau fünf Jahre, nachdem Kanzler Schröder die Debatte darüber mit seiner Green-Card-Initiative eröffnet hatte.

Schily "voller Tatendrang"

Schily sieht in dem Zuwanderungsgesetz eine "historische Wende in Deutschland". Spekulationen, er könnte sich nach dem Erfolg zur Ruhe setzen, trat er aber entschieden entgegen. "Sie sehen mich bei guter Gesundheit und voller Tatendrang", sagte der 71-Jährige. Der Erfolg in den Zuwanderungsverhandlungen werde ihn "im Arbeitseifer beflügeln". Er wolle seine Pflicht im Kabinett bis zum Ende der Legislaturperiode erfüllen. "Bisher habe ich immer den Eindruck, ich bin wohlgelitten in der Regierung und auch in der Öffentlichkeit."

AP · DPA
Michael Fischer/AP