Zwischenruf Kanzler von Neverland

Gerhard Schröder ist der erste Spitzenpolitiker, der nicht durch Wahlen, sondern durch Umfragen aus einem Amt getrieben wurde. Das Volk herrscht auf neue Weise. Aus stern Nr. 8/2004

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sagt das Grundgesetz. Und meint Wahlen. Stimmt. Und stimmt doch nicht mehr. Natürlich wird die Macht im Staate durch Wahlen verteilt. Doch sie spiegeln längst nicht mehr die Meinung des Volkes. Jedenfalls nicht authentisch, eins zu eins. Ganz zu schweigen vom Parlament, das alles aussagt über die jämmerliche Verfassung der Parteien und ihrer Phrasendreher - brainwashed wie gebleichte Intelligenzen -, nichts mehr aber über die wahre Stimmung des Volkes. Das Parlament ist das Haus der dressierten Demokratie. Die Politik hat sich in ihr Neverland geflüchtet, ein zuckersüß möbliertes Flokati-Schlösschen aus Selbstinszenierung und Realitätsverlust. Doch gelegentlich reißt das Volk den Zaun nieder und zerrt einen der Bewohner heraus aus dieser Traumwelt. Denn das Volk ist nicht blöd. Es herrscht. Auf seine, auf neue Weise - aber ganz anders, als die Verfassung es ahnte. Durch Verweigerung.

Gerhard Schröder ist es so ergangen. Er ist der erste Spitzenpolitiker, der nicht durch Wahlen, sondern durch Meinungsumfragen gestürzt wurde. Nicht eine Rebellion seiner Partei hat ihn das Amt des SPD-Vorsitzenden gekostet; alle Ansätze dazu hat er durch Rücktrittsdrohungen niedergeworfen. Das Volk hat ihn aus dem Amt gezerrt. Mit zwei Erhebungen hat es den Neverlander gepackt. Im Januar, als die Zustimmung zur Kanzlerpartei auf das historische Tief von 24 Prozent und das Vertrauen in die Regierung auf 18 Prozent sackte. Beide Umfragen wurden vom Forsa-Institut des Kanzlerberaters Manfred Güllner erhoben - im Auftrag des stern. Schröders Rücktritt als SPD-Chef war ein Sieg des Volkes durch Aufkündigung von Loyalität - so abrupt, so schroff, wie es das Land noch nicht erlebt hat.

Das Land steckt tief in einer Demokratiekrise

Doch selbst diese Daten bemänteln noch immer die wahren Verhältnisse. Das Land steckt tief in einer Demokratiekrise. Die SPD ist ihr erstes, aber beileibe nicht ihr einziges Opfer. Schröders Schicksal ist Menetekel für alle Bewohner von Neverland. Denn nicht die CDU/CSU ist heute stärkste Kraft in Deutschland. Die größte Partei ist die der Nichtwähler und politisch Heimatlosen. Sie hat gewaltigen Zulauf und schwoll unaufhörlich an von 21 Prozent nach der Bundestagswahl 2002 auf 37 Prozent im Januar dieses Jahres. Bezogen auf alle Wahlberechtigten bringt es die Union dagegen nur auf 30, die SPD gar auf 16 Prozent. Forsa hat auch dies für den stern ermittelt, wissenschaftlich unerbittlich. Der geläufige Scherz, die SPD arbeite am Projekt 18, verblasst hinter der Realität. Sie hat längst das Projekt 16 verwirklicht.

Die Partei der Nichtwähler hat 37 Prozent, die SPD das Projekt 16 verwirklicht

Doch von den Meinungsforschern regelmäßig erhoben und öffentlich verbreitet werden nur die Parteipräferenzen jener, die sich zu einem Lager bekennen. Nur sie entscheiden ja auch darüber, wie die Mandate verteilt werden. Würden die Nichtwähler als fiktive Partei gewertet, müsste heute mehr als ein Drittel der Sitze im Bundestag leer bleiben. Es wäre das wahre Abbild von Volksherrschaft.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Routinierte Ignoranz

Die Neverlander antworten darauf mit routinierter Ignoranz. Die Zuspitzung vor Bundestagswahlen sorgt ja auch dafür, dass die Wahlbeteiligung immer wieder respektable Werte erklimmt. In diesem Jahr aber geht es nicht um den Bundestag, sondern 13-mal um Länder- und Kommunalparlamente, zudem um die kastrierteste aller Volksvertretungen, das Europaparlament. Die Parteien haben Verheerendes zu befürchten. Die Wahlbeteiligung bröckelt schon lange. Zur Europawahl vor fünf Jahren gingen nur 45,2, zur Kommunalwahl in Brandenburg im vergangenen Oktober 45,8 Prozent. Selbst die satte 60-Prozent-CSU brachte es im September 2003 in Bayern nur auf 34 Prozent aller Wahlberechtigten. Mehr als je zuvor wird in diesem Jahr die Wahlbeteiligung das Urteil des Volkes über die Politik verkünden.

Der Kanzler von Neverland ist schon verurteilt. Er wird nicht bestraft, weil er zu viel reformiert, sondern weil er keine Reform zu Ende gebracht hat. Gesundheit: nicht mal Kostendämpfung. Steuern: Dschungel ohne Ende. Arbeitsmarkt: Kündigungsschutz nur oberflächlich, Tarifverträge gar nicht angekratzt. Rente: Abzockerei. Entbürokratisierung: Kapitulation. Innovation: nur ein Ablenkungsmanöver. Elite-Unis: unpopulär bis verhasst. Konsum, Aufschwung: blanke Hoffnung. Die Deutschen fühlen sich ins Niemandsland gestoßen, sind pessimistisch wie nie, sparen aus Verzweiflung. Der Kanzler müsste noch mal ganz von vorne anfangen. Alles neu, alles anders. Dafür aber fehlen Kraft und Mut. Dead Gerd walking.

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Hans-Ulrich Jörges