Die zehnjährige Belagerung Trojas durch die Griechen wurde durch ein mächtiges hölzernes Pferd entschieden. Die Trojaner hielten es, der antiken Mythologie zufolge, für ein Weihgeschenk an die Göttin Athene und zogen es vertrauensselig in ihre Stadt, wo des Nachts die im Innern des Rosses verborgenen Griechen herauskletterten, um ihren Waffenbrüdern das Tor zu öffnen. Troja wurde zerstört, das Trojanische Pferd als Metapher für listige Unterwanderung erwies sich als unzerstörbar.
Im September 2005, anderthalb Wochen vor der Bundestagswahl, wurde ein russisches Pferd nach Berlin gezogen. Das Weihgeschenk für den wahlkämpfenden Gerhard Schröder wurde von einem weitsichtigen russischen Diplomaten mit dem Satz kommentiert, man wolle "einer künftigen Bundesregierung etwas mit auf den Weg geben". Die Gabe, der neuen Zeit gemäß nicht ein hölzernes Pferd, sondern eine stählerne Röhre aus der Ostsee, wurde allseits bestaunt, ganz wie ehedem in Troja. Bevor sie sich indes öffnen und ihr in vier Jahren Gas entströmen kann, hat Misstrauen von den Berlinern Besitz ergriffen. Das Pferd ist, um im Bilde zu bleiben, in Trojas Mauern, sprich: der Pipeline-Vertrag unterzeichnet, und die Furcht geht um, das russische Gas könnte am Ende trojanische Folgen haben.
Denn unsere Griechen, will heißen: die Russen, haben machttrunken einen Fehler begangen, der den Neu-Trojanern die Augen geöffnet hat. Und hier soll das Gleichnis ein Ende haben, denn es geht nicht um Krieg und Zerstörung. Gottlob. Wohl aber um Macht, die sich in harmlos-hölzerner Verkleidung einschleicht, um später womöglich ihren stählernen Kern zu enthüllen. Die Russen nämlich haben mit der Ukraine ein Exempel statuiert, das ihren Partnern zweierlei offenbart. Erstens: Die Versorgung mit Erdgas ist nicht nur eine Frage ökonomischer Rationalität - die unbotmäßige Ukraine muss viel mehr bezahlen als das treue Weißrussland. Zweitens: Will sich ein Kunde nicht fügen, wird ihm der Hahn zugedreht. Und sei es mitten im Winter. Die Gas-Geschäfte Moskaus stehen seither unter dem Generalverdacht eines Troja-Projekts.
Die gedemütigte Weltmacht, die das Sowjet-Imperium ebenso verloren hat wie ihren politischen und militärischen Glanz, entfaltet neues Selbstbewusstsein, neuen Wohlstand und neuen Herrschaftsanspruch nur durch ihre Rohstoffe. Russland ist der größte Gaslieferant der Welt - und der Kampf um Energie die strategische Frage unserer Zeit. Um Clausewitz abzuwandeln: Nicht der Krieg, sondern der Gaspreis ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Um Clausewitz abzuwandeln: Nicht der Krieg, sondern der Gaspreis ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
Wladimir Putin arbeitet zielstrebig an der Vollendung seines Clausewitz-Projekts. Die wichtigsten privaten Konkurrenten sind ausgeschaltet - der Yukos-Konzern des inhaftierten Michail Chodorkowskij zerschlagen, die Sibneft des gezähmten Roman Abramowitsch mehrheitlich in Staatsbesitz. 51 ist die Kennziffer der Machtentfaltung Putins. Mit 51 Prozent beherrscht der russische Staat den Giganten Gasprom, mit 51 Prozent auch die Deutschland-Pipeline durch die Ostsee. Mit 51 Prozent will Putin sich den Ex-Kanzler als Vorsitzenden des Pipeline-Aufsichtsrats halten, und mit 51 Prozent könnte er sich schließlich selbst, so wird in Moskau gemunkelt, zum Chef der Gasprom machen, wenn seine Präsidentschaft 2008 endet. Er könnte damit mächtiger werden als sein Nachfolger: Jedem Land ein eigener Gaspreis, für jedes eine eigene Pipeline, die in Moskau auf- oder zugedreht werden kann - das ist erkennbar Putins Modell.
Und Deutschland beginnt zu begreifen. Der strategische Partner kann zur strategischen Bedrohung werden. Mehr als 40 Prozent ihres Gasverbrauchs deckten die Deutschen 2005 schon aus russischen Quellen, und wenn die Ostsee-Pipeline fertig ist, könnten es noch weit mehr werden. Die Direktverbindung, an den wütenden Polen und den entsetzten Balten vorbeigeplant, entpuppt sich plötzlich als Instrument deutscher Erpressbarkeit statt nationaler Unabhängigkeit. Denn nur weil Westeuropa vom russischen Lieferstopp mit betroffen war und nervös wurde, sah sich Putin zur raschen Einigung mit der Ukraine genötigt. Das heißt: Ein europäisch verzweigtes Versorgungsnetz schützt vor Erpressung Einzelner, eine separate Pipeline hingegen macht verwundbar. Schröders Vertrag war mithin ein strategischer Fehler. Zumal die Gasprom nun auch mit der Übernahme kleinerer deutscher Gasversorger liebäugelt, direkt zu den Kunden kommen will.
Angela Merkel ist am Montag bei Putin in Moskau. Sie will die deutsch-russische Achse politisch auflösen, wirtschaftlich ist die in Stahl gegossen - in Form der Pipeline. Ein Entkommen gibt es nur, wenn Deutschland seine Energieversorgung planvoll diversifiziert, die russische Röhre nach Westeuropa verlängert und sie einbaut in ein breites Verbundnetz. Das Pferd ist in der Stadt. Die Europäer gemeinsam müssen es zunageln.