Zwischenruf Vom Hörsturz zum Sturz

Mit der Wahl von Matthias Platzeck zum Vorsitzenden wollte die SPD das Merkel-Wunder wiederholen – aber der hatte nicht ihre Härte. Aus stern Nr. 16/2006

Der Rücktritt war nicht die Folge gesundheitlicher, sondern politischer Probleme. Denn die politischen Probleme hatten die gesundheitlichen erst ausgelöst. Matthias Platzeck verfügte nicht über die physische und psychische Härte, die programmatische Kreativität und die persönliche Verwurzelung, um die SPD in der Großen Koalition von außen, ohne Regierungsamt führen zu können. Der Dauerstress des Ministerpräsidenten in Brandenburg, Großkoalitionärs in Berlin und SPD-Chefs in Deutschland war zu viel für den Potsdamer, der sich mit dem typischen Charakterbild des pragmatisch-unideologischen Ostdeutschen in die große Politik getraut hatte. Der Hörsturz war nur die Vorstufe des Sturzes. Und die Ehrlichkeit des raschen Abgangs war das Beste, was er für seine Partei noch tun konnte. Leiden ohne Ende – Platzeck reagierte stets körperlich auf politischen Druck – hätte politisches Siechtum bedeutet, heftig betuschelt. Das Mitleid, das immer bösartiger geworden wäre, hat er sich erspart. Und der SPD.

Es hatte ja schon alles mit einem schlechten Ratschlag begonnen – mehr Schlag als Rat. Es sei besser, empfahl ihm Gerhard Schröder, wenn er nicht als Vizekanzler in die Große Koalition eintrete, wenn er die SPD von außen neu ausrichte. Dem zu folgen, war ein kapitaler Fehler. Denn für die SPD spielte die Musik fortan ausschließlich in der Großen Koalition. Im Handumdrehen war Franz Müntefering wieder der wahre Parteichef, der den ersten stählernen Nagel für die SPD einschlug, Rente mit 67, ohne den Potsdamer informiert zu haben. Die Kanzlerin hatte er ins Bild gesetzt – und mit ihr treibt und betreibt er auch seither die Koalition. "Wir werden konstruktive Pfadfinder sein. Kreativ und mutig und sozial", schrieb Müntefering im März. Das waren Worte eines Vorsitzenden, nicht des Vizekanzlers.

Platzecks Versuche, Einfluss zu nehmen, blieben unbeholfen, von den Koalitionären seiner Partei eher als störend denn als zielführend empfunden. Beim Familiengeld stellte er getroffene Vereinbarungen wieder infrage, bei der Gesundheitsreform versuchte er Festlegungen zu treffen, in der Programmatik der Partei ruderte er mit Familienpolitik und Erziehung am Rande des sozialdemokratischen Gewässers. Franz Müntefering und Peter Struck beobachteten den dilettierenden Ossi mit einer Mischung aus Misstrauen und Mitleid. Jedenfalls taten sie nichts, um ihn als Nummer eins zu stärken. Hubertus Heil, Platzecks Generalsekretär, bekam das Fremdeln der beiden mit dem Schwächelnden mitunter brutal zu spüren. Heils Versuche, die SPD eigenständig und kritisch gegenüber der Union sichtbar zu machen, wurden als Störmanöver postwendend mit Rügen geahndet. Denn Müntefering und Struck waren und sind nur an einem interessiert: an reibungslosen, diskreten Geschäften mit der Union im Berliner Bündnis.

Platzeck: draußen vor der Tür. Und programmatisch: Allgemeinplatzeck. Am Tag seines Rücktritts veröffentlichte der "Spiegel" ein Dokument unter seinem Namen, das in verschwurbelter Diktion wie die tiefere politische Begründung des Abgangs gelesen werden kann. Von "dynamischem Wandel der Wirtschaft", "demografischem Umbruch" und zusammenwachsendem Europa war da die Rede. "Das alles schafft neue Chancen und neue Risiken." Ach ja. "Das alles erfordert neue Verständigung und neue Gestaltung, neue Orientierung und neue Sicherheiten." Aber keine neuen Ideen.

Kurt Beck ist nur Übergangsvorsitzender, gänzlich uncharismatisch. Gerade so lange im Amt, wie hinter ihm das Elend grinst

Als Matthias Platzeck gewählt wurde, hoffte die SPD in ihrer Not auf eine Wiederholung des Merkel-Wunders, diesmal in ihren Reihen. Ein junger, unverbrauchter, ungemein sympathischer Ostdeutscher sollte die verbrauchte Partei auf ähnliche Weise neu auf- und ausrichten, wie die ostdeutsche Frau es mit der CDU fertig gebracht hatte. Bloß: Merkels Härte hat er nicht. Sein Wahlergebnis, sensationelle 99,4 Prozent, war nur so zu erklären – und damit, dass ihn in Wahrheit niemand kannte. Er hatte eben einfach (noch) keine Gegner. Danach verzettelte er sich heillos, bis hin zu einem skurril engagierten Redemarathon im gänzlich unbedeutenden hessischen Kommunalwahlkampf. Es pfiff ihm warnend im Ohr, er kollabierte – und erlöste sich.

Nun bekommt die SPD den siebten Vorsitzenden nach Willy Brandt. Eine Stafette des Verschleißes. Keiner vermochte dauerhaft zu begründen, wozu die SPD eigentlich noch da ist. Das wird auch Kurz Beck kaum gelingen, den seinerzeit nur sein Landtagswahlkampf dazu bewog, den Vorsitz Platzeck zu überlassen. Er dürfte Merkel und Müntefering das Regieren schwerer machen als das Greenhorn aus Potsdam, weil er von Berlin weiter weg ist – und nicht so harmlos. Aber Beck ist nur Übergangsvorsitzender, gänzlich uncharismatisch. Gerade so lange im Amt, wie hinter ihm das nackte Elend grinst. Das trägt einstweilen den Namen Sigmar Gabriel.

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Hans-Ulrich Jörges