Momente des Jahres Wie ich Sahra Wagenknecht besuchte – und ein kleines Mädchen traf

Momente des Jahres: Wie ich Sahra Wagenknecht besuchte – und ein kleines Mädchen traf
Während der Recherchen zu einem Porträt treffe ich die damals noch Linkspartei-Politikerin in ihrem Büro. Es wird ein Gespräch, an das ich bis heute zurückdenke.

Making-of – so heißt unser neues Format auf stern.de. Wir wollen Ihnen einen persönlichen Blick hinter die Kulissen ermöglichen, aus unserem journalistischen Alltag erzählen, davon, was wir bei Recherchen erleben und was uns in der Redaktion bewegt. Wir beginnen mit einer kleinen Serie, in der wir auf unsere Momente des Jahres 2023 zurückblicken.

Mein persönlicher Moment des Jahres? Vielleicht dieser. Es ist ein Freitagnachmittag im März 2023, ich sitze zusammen mit Sahra Wagenknecht in ihrem Bundestagsbüro, Jakob-Kaiser-Haus, Raum Nummer 1.735. Es soll ein professionelles Gespräch werden, für ein stern-Porträt, das ich schreiben möchte. Über diese Frau, die seit Monaten die Republik in Aufregung versetzt: Mit ihrer Kritik an den Waffenlieferungen für die Ukraine, ihren Forderungen nach mehr Härte in der Migrationspolitik, ihren nebulösen Andeutungen über die Gründung einer neuen, eigenen Partei. 

Aber es wird: eine sehr persönliche Begegnung. Wagenknecht spricht über ihre Kindheit. Ihren Vater, der die Familie verließ, als sie drei Jahre alt war. Wie es sich anfühlte, als kleines Mädchen auf seinen kräftigen Schultern zu sitzen. Wie er sie einmal eine steile Treppe hochtrug. Wie sehr sie ihn mochte. 

"Und plötzlich ist einer weg"

Dann sagt sie: "Und plötzlich ist einer weg.“

Stille im Büro.

Es ist sehr selten, dass Politiker etwas von sich preisgeben. Und wenn, dann geschieht dies meist nicht ohne Kalkül. "Ich komme aus ärmlichen Verhältnissen, oft reichte am Ende des Monats das Geld nicht" – das ist zum Beispiel eine sehr beliebte Geschichte. Sie muss nicht falsch sein. Und doch schimmert eine gewisse manipulative Absicht durch, die Botschaft, die vermittelt werden soll: Seht her, ich weiß um die Sorgen und Nöte der "einfachen Leute“, ich war ja selbst einer von ihnen. 

Aber: verlassen werden? Zur Abrundung einer Erzählung vom eigenen Leben? Eigentlich doch eher ungeeignet.

Sahra Wagenknecht wurde geschlagen – und sie schlug zurück

Sahra Wagenknecht hat bisher wenig über ihre Kindheit in der DDR gesprochen. Es gibt eine sehr lesenswerte Biographie des Sozialpsychologen Christian Schneider, in der sie einiges von sich preisgegeben hat. Ehrlich gesagt, interessierte mich das mehr als zum x-ten Mal mit ihr ihre – nach meiner Ansicht zum Teil etwas kruden – Thesen zum Ukraine-Krieg, zu den angeblichen Fehlern der Corona-Politik oder zur Zukunft von Europa durchzukauen. Ich ließ sie erzählen. 

Und sie erzählte: Wie sie ihrem Vater, einem Exil-Iraner, der in sein Heimatland zurückgekehrt war, um mitzuhelfen beim Sturz der Schah-Diktatur, noch jahrelang Briefe schrieb – ohne sie jemals abzuschicken. Wie sie sich eine merkwürdige Handschrift angewöhnte, deutsch, aber schwungvoll ins Persische stilisiert. Ihr Vater sollte nie wieder auftauchen. Sie muss ihn sehr vermisst haben, noch viele Jahre danach. In ihrer Kindheit war sie oft allein. Sie wurde gehänselt, wegen ihres in der damaligen DDR etwas fremdländisch wirkenden Gesichts. Einmal fragte ein Kind: „Bist Du eine Chinesin?“ Sie wurde geschlagen – und sie schlug zurück.

Das waren so die Themen an diesem Freitagnachmittag in Raum 1.735 im Jakob-Kaiser-Haus.

Ausgerechnet diese Frau, die andere stets mit unverbindlicher Freundlichkeit auf Abstand hält, kostümhaft zugeknöpft, kühl räsonierend und dozierend, – ausgerechnet sie sprach über den ersten großen Schmerz in ihrem Leben und über ihre frühe Einsamkeit. 

Vielleicht wollte sie damit zeigen: Ich bin gar nicht so unnahbar, wie immer alle denken, ich bin auch ein Mensch. Und damit fassbar, wählbar. Vielleicht wollte sie auch nur über etwas sprechen, das sie bis heute bewegt und prägt. Eine frühe Verletzung. Ein erstes, schockartiges Gefühl von Verunsicherung, möglicherweise: Zurückweisung. Wie kann man ein dreijähriges Mädchen einfach so zurücklassen? Kann wirklich etwas wichtiger sein? Gab es bei dem einen, der plötzlich "weg“ war, gar keine Sehnsucht? 

Politik ist bei Wagenknecht zu 90 Prozent Psychologie

Oft habe ich gehört: Journalisten sollten mit (laien-)psychologischen Deutungen vorsichtig sein. Das stimmt. Anderseits habe ich in vielen Jahren, die ich für den stern Politiker begleitet und beobachtet habe, eines gelernt: Politik ist zu wesentlichen Teilen Psychologie, nur so ist sie zu verstehen und zu erklären. Dazu kommen natürlich die sogenannten „Inhalte“. Aber den Erklärungsanteil von Psychologie würde ich viel höher schätzen. Im Fall Wagenknecht, um ehrlich zu sein: auf 90 Prozent. 

Inzwischen hat sie ihre alte Partei, die Linke, längst verlassen und eine neue gegründet. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ ist angetreten, die deutsche Parteienlandschaft umzupflügen, mit einer wilden Mischung aus konservativ-nationalen und alt-sozialdemokratischen Polit-Versatzstücken. Die erste große Bewährungsprobe ist im kommenden Jahr die Europawahl. 

In den Theatersälen der Republik liest Wagenknecht regelmäßig aus ihrem Bestseller „Die Selbstgerechten“, einer wütenden Abrechnung mit der bundesdeutschen „Lifestyle-Linken“ und ihrer angeblichen grün-woken Meinungsdiktatur. Manchmal stehen die Menschen auf und applaudieren minutenlang. Sie badet dann in der Zustimmung all jener, die das Gefühl haben, dass dieses Land nicht mehr ihr Land ist, dass sie keine Heimat mehr haben. Sahra Wagenknecht hatte auch nie eine.

Versteht man sich deswegen so gut?