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Anti-Brexit-Marsch in London Stillstand ist Fortschritt. Zumindest manchmal.

Unser Kolumnist Michael Streck nahm in London am großen Anti-Brexit-Marsch teil. Meistens stand er mit den anderen Demonstranten. Und merkte wieder einmal, wie sehr ihm die Briten fehlen werden, falls sie aus der EU krachen.

Wir waren am Samstag beim großen Marsch in London. Etwa eine Million anderer Menschen waren auch da. Meine Frau hatte uns gut vorbereitet und T-Shirts bestellt und Sticker und eine Europafahne gekauft, die in etwa so groß wie Luxemburg war und entsprechend unhandlich. Man kann auch nicht unbedingt sagen, dass es ein Marsch war. Wir standen erst einmal auf der Park Lane. Wir standen dort eine Stunde, und daraus wurden zwei Stunden. Vor Westminster hielten die Organisatoren vom "People’s Vote" bereits die großen Reden für ein zweites Referendum. Wir standen und standen unterdessen und unterhielten uns mit sehr liebenswürdigen Leuten aus England, Schottland, Irland, Holland, Schweden.

Ich merkte nach zwei Stunden vorsichtig an, dass es womöglich sinnvoll sei, eine Abkürzung zu nehmen, um wenigstens noch Fragmente der Reden mitzubekommen, aber die Idee kam bei den anderen nicht richtig gut an. Sie sagten verblüffend übereinstimmend, das sei in etwa so wie vordrängeln an der Bushaltestelle, mithin das Unbritischste und Unzivilisierteste, das man sich vorstellen könne. Meine Frau rüffelte mich: "Manchmal bist du wirklich sehr deutsch." Mitgehangen, mitgestanden. Also standen wir weiter und bewegten uns gefühlt 15 Meter pro Stunde. Ich rechnete hoch, dass wir in diesem Tempo bis Mitte April brauchen würden, um den Parliament Square zu erreichen. Meine Frau sagte: "Dann sei es so."   

Humor und Kreativität der Briten sind einmalig

Der Stoff unserer großen und wirklich schönen Europa-Fahne flatterte unentwegt anderen ins Gesicht, die sich aber nicht beschwerten, schließlich ging es ja um eine gute und gemeinsame Sache. Ich muss gestehen, dass ich an sich gegen ein zweites Referendum bin. Ich war schon gegen das erste, und man sieht ja, was das angerichtet hat. Ein zweites ginge womöglich knapp anders herum aus, aber dann würden die Verlierer vermutlich auf ein drittes drängen, und die Verlierer eines dritten auf ein viertes. Und so weiter. Es wäre, konsequent zu Ende gedacht, ein Neverendum. Ich ging trotzdem hin, weil ich den Marsch für mich ganz persönlich uminterpretierte in eine Pro-Europa-Veranstaltung. 

Während wir standen und aktive Entschleunigung zelebrierten, wurde mir jedenfalls noch einmal bewusst, was ich an den Briten so verehre und wie sehr sie mir fehlen werden, falls sie wirklich aus der EU krachen. Ihr Humor und die Kreativität sind einmalig. Eine ältere Dame trug ein Schild auf dem stand: "Dear Dignitas, do you do Countries?", liebe Dignitas, kümmert ihr euch auch um ganze Länder? Ein Vater hatte sich als Jedi-Ritter verkleidet mit Lichtschwert, seine kleine Tochter schleppte er auf dem Rücken. Ein anderer, der verblüffende Ähnlichkeit mit Boris Johnson hatte, stand vor seinem Hauseingang mit Anzug und Krawatte und einem Schild "Tories against Brexit"; er hatte offenkundig ein paar alkoholische Getränke verköstigt, das Hemd hing ihm aus der Hose, das Gesicht rosig, aber er wirkte glücklich. 

Mit Bussen und Lügen kennen sich Brexiteers gut aus

Wir bewegten uns nun überaus gemächlichen Schrittes auf Westminster zu, nach meiner Hochrechnung würden wir in diesem Tempo lediglich noch zwölf Stunden brauchen, meine Frau sagte, "dann sei es so", unsere Luxemburg-große Europa-Fahne flatterte anderen Mitläufern weiterhin ins Gesicht, was weiterhin niemanden störte, im Gegenteil, "nice flag". So schlenderten wir voran und passierten eine Frau mit einem Plakat "Fromage not Farage", Käse statt Farage. 

Das bezog sich auf den Brexit-Scharfmacher Nigel Farage, den früheren Boss der Rechtspopulisten von UKIP. Er war am Samstag verhindert, weil er an seinem eigenen Marsch teilnahm. In Linby, Nottinghamshire, versammelte er 200 Brexit-Fans vor einem Pub. Sein langer Marsch auf London hatte bereits in der Vorwoche in Sunderland begonnen, er soll am 29. März in London ankommen, dem Tag des ursprünglich mal avisierten Brexit. Das gilt nun nicht mehr, und man kann es nicht anders sagen: Farages Marsch war von Beginn an ein rechter Rohrkrepierer. Es ist bestenfalls ein Märschchen. Ein paar Dutzend Hardline-Brexiteers beteiligen sich, Farage selbst lässt sich nur an den Wochenenden blicken. Er sprach schließlich zu den paar Dutzend Hanseln vor einem Bus auf einem Parkplatz vor einem Pub, sie seien in Wahrheit die Mehrheit.

Mit Bussen und Lügen kennen sich die Brexiteers ziemlich gut aus. 

Anti-Brexit-Marsch - die wohl größte Demo Großbritanniens aller Zeiten

Wir erreichten Westminster, als die Reden natürlich vorüber waren. Ich las alles nach. Die Politiker auf der Bühne hatten gesagt, dass die Regierung diese gigantische Demo, die vermutlich größte in der Geschichte Großbritanniens, nicht ignorieren könnten und auch nicht die inzwischen 4,5 Millionen Unterschriften für einen Rückzug von Artikel 50. Das waren schöne Worte. Allein, mir fehlt der Glaube. Die kommende Woche im Parlament wird aller Voraussicht nach noch chaotischer und wilder als die vergangene. Vielleicht ist Theresa May am Ende dieser Woche nicht mehr Premierministerin. Das ist alles möglich. Auf einem Plakat stand: "March till the end of May". 

Wenn das so ist, bin ich froh, dass wir jetzt im Besitz einer unhandlichen Fahne sind. Sie wird vielleicht noch mal gebraucht. Falls nicht, kommt Luxemburg bei uns ins Wohnzimmer. 

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