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M. Streck: Frischluft Kein grüner Daumen, aber immerhin zwei linke Hände

M. Streck: Frischluft: Kein grüner Daumen, aber immerhin zwei linke Hände
In Corona-Zeiten entdeckten viele Deutsche das Gärtnern. Sie pflanzten, topften, düngten und wühlten im Dreck. Unserem Autoren Michael Streck ist das suspekt. Obwohl er auf Grün wie ein Pawlowscher Hund reagiert…

Ich bin gerne draußen an der frischen Luft, das ist allerdings nicht der Grund für den Namen dieser Kolumne, das war schon immer so.

Als wir in London lebten, besaßen wir hinter unserem Schrott-Häuschen eine Art Reclam-Garten, in dem es insofern immer grünte, weil dort Kunstrasen lag. Damals habe ich die Vorzüge von Kunstrasen sehr zu schätzen gelernt; man konnte ihn notfalls sogar saugen und musste nie mähen.

Die Gartenmöbel hatten wir von unseren holländischen Vormietern geerbt. Sie waren massiv und nicht besonders schön und besser als nichts. Wir bedankten uns sehr, in Wahrheit aber glaube ich, dass die Holländer uns sehr viel dankbarer waren als wir ihnen. Auf diesen schweren und hässlichen Holzmöbeln saßen wir jahrelang im Frühjahr, selbstverständlich im Sommer, oft im Herbst und zuweilen sogar im Winter.

Ein Garten nach meinem Geschmack...

Hinter dem Reclam-Garten lag die Außenfläche eines irischen Pubs, und also hatten wir am Wochenende auch noch Freiluftbeschallung, denn Iren singen gern und viel und laut und zwar zu jeder Jahreszeit und obendrein waren wir qua Nähe und Jubel auch stets informiert über die Zwischenstände beim Rugby.

Es war ein Garten nach meinem Geschmack. Klein, ohne große Arbeit, frische Luft – im Rahmen der Londoner Möglichkeiten natürlich.

Journalistin Meike Winnemuth lebte ein Jahr lang in ihrem Garten – im Interview erzählt sie über ihr Selbstexperiment.

Moos, Unkraut, Löwenzahn

Dann zogen wir nach Deutschland in unser kleines Haus im Hamburger Norden, und das Unheil nahm seinen Lauf. Das Haus hat einen kleinen Garten, aber leider nicht mit Kunstrasen, sondern mit echtem oder dem, was von dem echten übrig geblieben ist. In erster Linie Moos. In zweiter Linie Unkraut, in dritter Linie Löwenzahn.

Mich stört das nicht, grün ist für mich grün. Ich reagiere auf diese Farbe wie ein Pawlowscher Hund, sobald sich Menschen auf grünem Untergrund befinden und einem Ball hinterherrennen. Meine Frau kennt das, sie hat sich in vielen Jahren der Zweisamkeit daran gewöhnt. Ich hingegen muss mich erst daran gewöhnen, dass nun auch sie wie ein Pawlowscher Hund auf Grünflächen reagiert und zwar auch und vor allem dann, wenn sich keine Menschen darauf bewegen und hinter einem Ball herlaufen.

Menschen zieht es wegen Corona in die Gärten

Corona hat viel verändert. Die Menschen zog und zieht es in die Gärten, sie wühlten und wühlen in der Blumenerde, sie pflügen Beete, pflanzen, topfen um, lauter solche Sachen. Selbst bislang in dieser Hinsicht Unverdächtige wie meine Frau tun das. Die Gartencenter machen Rekordumsätze. Bestimmt ist unser Pflanzenladen inzwischen mehr wert als die Lufthansa.

Mir ist das fremd. Ich besitze definitiv keinen grünen Daumen, aber immerhin zwei linke Hände. Zuweilen stelle ich bekümmert fest, dass sich sogar Freunde und Kollegen inzwischen mit ähnlich großer Verve über die Pflege von Fingerhut und Tränenden Herzen unterhalten wie früher über Fußball und Trainer mit Herz. Dann sitze ich daneben auf unseren alten Gartenmöbeln aus England, still und stumm und trauere dem Kunstrasen hinterher und dem irischen Pub.

Tom, der Orchideenzähler

Manchmal denke ich auch an den vielleicht verrücktesten und liebenswertesten Gärtner der Welt, den ich zweimal in Kent, dem Garten Englands, treffen durfte zu einer Zeit, als alles noch ziemlich in Ordnung war. Sein Name ist Tom Hart Dyke, ein Spross aus uraltem Geschlecht, Abkömmling von König Edward III. (1313 – 1377), zu Hause in Lullington Castle.

Man muss wissen, dass Tom, 47, immer etwas anders war, schon als Junge. Wenn die Klassenkameraden kickten, zählte er die Orchideen auf dem benachbarten Golfplatz; er zählte vier Tage lang und kam auf 63.424. Die anderen gingen in den Pub oder Mädchen aufreißen, Tom verdingte sich im Garten oder radelte nach Portugal auf der Suche nach seltenen Orchideen und Kakteen.

Monatelang in den Händen der Farc-Guerilla

Er studierte natürlich Pflanzenkunde und begab sich im Jahre 1999 auf einen Trip nach Südamerika, über den er rückblickend sagt, das sei nicht besonders weise gewesen, was mit einiger Gewissheit die vornehmste Untertreibung in der ewig langen Geschichte dieser Familie ist. Er durchquerte jedenfalls mit seinem Freund Paul den berüchtigten Darien Gap, von dem es seinerzeit hieß, kein Mensch würde diese von der Farc-Guerilla beherrschte grüne Hölle freiwillig betreten – bis auf, nun ja, "zwei Idioten aus England", wie Tom reuig konzidiert, nämlich er und Kumpel Paul. Sie wurden selbstredend prompt von maskierten Kämpfern der Farc hops genommen.

Neun Monate verbrachten sie in diversen Dschungel-Camps mit ihren Entführern, die sie erst mal für Spione hielten und Lösegeld forderten. Nur, Tom, Glück im Unglück, sah nun wirklich nicht aus wie der Nachfahre eines englischen Königs. Eher wie ein Nerd, und so verhielt er sich auch. Legte Gärten an, pflanzte Mais und Yucca und sogar ein bisschen Coca, baute kleine Zäune um die Parzellen und schimpfte mit den Rebellen, wenn die achtlos über seine Keimlinge trampelten.

Traum vom Weltgarten erfüllt sich

In Gefangenschaft gedieh auch sein Traum von einem Garten daheim in Kent, der Traum von einem World-Garden dort mit Bäumen und Grünzeug von allen Kontinenten. Ein paar Monate später kamen sie frei, und der kolumbianische Botschafter in London ist bis heute davon überzeugt, dass Tom seine Entführer mit seinen Monologen über Fauna und Flora mehr quälte als umgekehrt und sie ihn vielleicht nur deshalb laufen ließen.

Sein Traum, der Weltgarten, eröffnete 2004, 7000 Pflanzen von überall, in guten Jahren 20.000 Besucher.

An den wunderbaren Tom muss ich immer wieder denken, wenn ich auf unsere ziemlich kümmerlichen Beete schaue oder dazu verdonnert werde, Blumenerde zu schleppen oder den Rasen zu mähen, der gar keiner ist.

Menschen mit Ball auf einem Rasen

In einigen Wochen ist der Sommer vorbei. Wir werden dennoch draußen sitzen an der frischen Luft auf den alten, klobigen Gartenmöbeln. Wenn es wirklich zu kalt werden sollte, gehe ich einfach rein, schalte mit meinem grünen Daumen den Fernseher ein und schaue Menschen zu, wie sie einem Ball auf einem Rasen hinterherrennen, der auch wirklich Rasen ist.

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