"Palast Trizzini" heißt der große Gebäude-Komplex mitten im Herzen der russischen Metropole Sankt Petersburg. Die klassizistische Fassade leuchtet in hellen Beige-, Gelb- und Grüntönen, die für das "Venedig des Nordens" so typisch sind. Die Adresse ist ein Traum: Universitäts-Damm, zwischen der 5. und 6. Linie der Wassiljewski-Insel. Nur wenige Meter entfernt befinden sich einige der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt: der Menschikow-Palast, die Sphinxe am Ufer der Newa, die Kunstkammer.
Die Fenster des zweistöckigen Baus gehen auf den Fluss und die Blagoweschtschenski Brücke hinaus, eine der schönsten der Stadt. Im Sommer bietet die Brücke einen spektakulären Anblick – wenn sie für die Schiffsfahrt aufgemacht und hochgefahren wird. Auf der anderen Seite der Newa glänzen die Kuppeln der Isaakskathedrale, ein Stück weiter sind die türkisblauen Wände des Winterpalasts zu sehen.
In dieser malerischen Lage beherbergt der "Palast Trizzini" seit einigen Jahren ein gleichnamiges 5-Sterne-Hotel und einige Restaurants, unter ihnen die "Street Food Bar Nr. 1". Die ganze Pracht gehört keinem anderen als Jewgeni Prigoschin, dem berüchtigten Chef der Söldnertruppe Wagner.
Attentat in Prigoschin-Bastion
In den offiziellen Unterlagen der russischen Behörden wird die Firma "Concord Management and Consulting" als Eigner des Komplexes geführt – und diese gehört zur Hälfte Prigoschin. Der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens heißt seit 2017 Dmitri Utkin, der Gründer der Söldner-Truppe Wagner. Es war Utkin, von dem Prigoschin vor einigen Jahren die vermeintlich private Söldner-Armee übernommen hat.
Und so war es kein Zufall, dass der selbst ernannte Militärblogger Maxim Fomin das Lokal "Street Food Bar Nr. 1" am vergangenen Sonntag für einen seiner zahlreichen Auftritte auserkoren hat. Bekannt unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski machte der Mann, der einst in der Ukraine für einen Bankraub verurteilt worden war, Stimmung für einen radikalen Kriegskurs Moskaus gegen seine Heimat.
Diese Linie propagierte Fomin vor einem ausgewählten Publikum bewährter Gleichgesinnter auch am vergangenen Sonntag – bis eine mit Sprengstoff präparierte goldene Büste in die Luft ging und das Leben des radikalen Nationalisten beendete.
Die neue Kaste der Z-Propagandisten
Die russischen Behörden benannten schnell die angeblichen Drahtzieher hinter dem Attentat: Ihrer Version für die Öffentlichkeit zufolge soll der ukrainische Geheimdienst zusammen mit dem Anti-Korruptionsfonds von Alexej Nawalny den "Terroranschlag" ausgetüftelt haben. Die Stiftung ist vom Kreml als "Terrororganisation" eingestuft worden. Nawalny steht in Kürze ein neuer Prozess in diesem Zusammenhang bevor. Dem Oppositionspolitiker drohen bis zu 35 Jahre Haft. Ein Anschlag, für den man ihn unmittelbar verantwortlich machen und für den Rest seines Lebens hinter Gittern halten kann, kommt für den russischen Machtapparat wie gerufen.
Polit-Experten und Kritiker des Kremls sehen nicht zuletzt wegen dieses willkommenen Zufalls viel mehr eine Aktion russischer Geheimdienste hinter dem Attentat. Einige Beobachter deuten die Ermordung von Fomin als einen Versuch des Kremls, die sogenannten Z-Propagandisten an die Kandare zu nehmen.
Fomin gehörte zu dieser neuen Kaste der russischen Öffentlichkeit. Die Z-Propagandisten oder Militär-Blogger, wie sie sich selbst gerne nennen, sprossen mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine förmlich aus dem Boden. Im Gegensatz zu der aus dem Kreml orchestrierten Propaganda-Maschine gehorchen die Z-Blogger nicht dem einen Herrn. Sie haben viele, manche von ihnen gar keinen. Was sie eint: Ihr Publikum dürstet nach Blut. Und sie liefern, was verlangt wird. Unzensierte Bilder von der Front wurden zu ihrem Markenzeichen. Das Motto: Je mehr verstümmelte Leichen zu sehen sind, desto besser. Die blutigen Bilder füllten die Informationslücke, die zwischen der staatlich kontrollierten Propaganda und dem Kriegsgeschehen entstanden ist. Dabei wagten die Z-Blogger etwas, was in Russland als Verrat gilt: Kritik an der Regierung. Für ihren Geschmack wird der Krieg nicht blutig genug geführt.
Viele Versionen, eine Bedeutung
Einer anderen Version zufolge könnte der Mord an Fomin eine Warnung an Prigoschin sein. Der Wagner-Chef liefert sich in den letzten Monaten einen erbitterten Machtkampf mit dem russischen Verteidigungsministerium und den Geheimdiensten. Im Kreml fällt er zunehmend in Ungnade. Ein Attentat in seiner Sankt Petersburger Bastion hat Symbolcharakter und schadet ihm wirtschaftlich ganz unmittelbar.
Auch eine Auseinandersetzung zwischen den Z-Propagandisten selbst, die sich im Kampf um die begrenzten Ressourcen an die Gurgel gehen, wird diskutiert.
Welche dieser Versionen letztendlich zutrifft, spielt aber für die russische Gesellschaft keine entscheidende Rolle. Das Attentat zeigt unabhängig vom Hintergrund eins: Russland ist wieder im Albtraum der 90er-Jahre gelandet.
Mord in Mafiosi-Höhle von St. Petersburg
Die Neunziger sind in Russland zum Synonym für absoluten Horror geworden. Es war Putin selbst, der die Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem Albtraum stilisiert hat. Seine Propaganda hat in den Köpfen einen Gedanken fest verankert: Alles ist recht und billig, wenn der Horror der Neunziger nie zurückkehrt.
Neben totalem Zerfall staatlicher Systeme und bitterlicher Armut prägten allgegenwärtige Morde diese Zeit: Zum Ziel wurden nicht nur kriminelle Größen sondern auch Künstler, Politiker, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Journalisten. Die Zahl derer, die bei dem Machtkampf der Banditen starben, ist auch Jahrzehnte später schwer einzuschätzen. Bis heute ist etwa der Mord an dem Fernsehmoderator und Generaldirektor des TV-Senders ORT, dem unabhängigen Vorgänger des heutigen Staatssenders Erster Kanal unvergessen. Wlad Listjew starb am 1. März 1995. Der Mörder überfiel ihn am Eingang seines Wohnhauses in Moskau und erschoss ihn aus nächster Nähe.
Damit sie jene Gesetzlosigkeit, Willkür und Chaos nicht wieder erleben müssen, sind die Russen bereit, vieles zu opfern.
Doch nun kehren die Verhältnisse der 90er wieder auf die Straßen Russlands zurück. Eine kriminelle Größe bekommt mitten am Tag eine goldene Büste seiner selbst überreicht – gefüllt mit Sprengstoff. Der Ort des Geschehens ist in der Stadt als Treffpunkt von dubiosen Elementen und radikalen Faschisten bekannt. In aller Öffentlichkeit wird einer von ihnen beseitigt. Eine Szene, als ob es die vergangenen 30 Jahre nicht gegeben hat.

Bevor die "Street Food Bar Nr. 1", in der Fomin starb, 2016 restauriert wurde, hieß das Lokal an der Ecke zwischen dem Universitäts-Damm und der 6. Linie der Wassiljewski-Insel "Russischer Kitsch". Hier wehte der Geist der 90er-Jahre bis tief in die Putin-Zeit hinein. Goldener Stuck, schwere Brokat-Vorhänge, rote Samtsessel – alles dem Geschmack eines Klischee-Mafiosi entsprechend. Düstere Gesellen in Bomberjacken vertrieben jeden Touristen aus den verrauchten Sälen, der den Kopf zwischen die Holztüren steckte.
Die Brokat-Vorhänge verschwanden 2016. Die dubiosen Gestalten nicht. Nun zeigen sie Russland: Der Sicherheitsapparat hat das Gewaltmonopol wieder verloren. Die Neunziger sind zurück.