Im Sommer 2014 führte im Donbass kein Weg an Igor Girkin vorbei: Unter dem Pseudonym Igor Strelkow (abgeleitet vom russischen Wort für Schütze) leitete er die vermeintlichen prorussischen Separatisten im Kampf gegen die ukrainische Armee an, koordinierte als "Verteidigungsminister" der selbstproklamierten Volksrepublik Donezk die Einnahme von Skawjansk und wurde in Russland als Kriegsheld gefeiert. Der Mann mit dem Bürstenschnurrbart war lange das Gesicht der Separatisten.
Doch im August 2014 legte der berühmte Rebellen-Kommandant sein Amt nieder und verschwand von der ostukrainischen Bühne. Am vergangenen Freitag rückte er jedoch wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit. In einem Interview mit dem TV-Sender OSN erklärte der ehemalige FSB-Offizier, die Ukraine-Invasion Wladimir Putins sei gescheitert: "29 Tage der Sonderoperation sind vergangen. In keiner einzigen Richtung wurde ein strategischer Erfolg erreicht (...). Mehr noch: Der Gegner führt durchaus erfolgreich die Mobilisierung durch und geht zu einer Gegenoffensive über." Was das russische Verteidigungsministerium und sein Sprecher Igor Konaschenkow mit keiner Silbe erwähnen würden.
"Zu meinem Bedauern muss ich feststellen: Meine pessimistischsten Prognosen darüber, dass wir in ein blutiges, langes, auszehrendes und für die Russische Föderation höchst gefährliches Schlamassel hineingezogen werden, haben sich in Gänze bewahrheitet."
Ein ehemaliger Separatisten-Führer und FSB-Offizier gesteht die Niederlage der russischen Armee in der Ukraine ein – eine Nachricht, die revolutionär anmutet. Doch tatsächlich sind die Äußerungen Girkins nicht überraschend. Nach seinem Verschwinden aus der Ukraine, folgte schnell der Bruch mit dem Kreml. 2016 wandte sich Girkin in aller Öffentlichkeit gegen Putin.
Igor Girkin sagte sich von Putin los
In einem Interview mit der britischen Zeitung "The Guardian" prophezeit er dem russischen Präsidenten damals eine düstere Zukunft. "Putin und sein Zirkel haben in jüngster Zeit einen Weg eingeschlagen, der meiner Meinung nach unweigerlich zu einem Kollaps des Systems führen wird", sagte er. "Wir wissen noch nicht wie, wir wissen noch nicht wann, aber wir sind uns sicher, dass es zusammenbrechen wird, und das eher früher als später."
In einer Deklaration der "All-russischen nationalen Bewegung", deren Vorsitzender Girkin ist, verweigerte er Putin die Gefolgschaft. "Wir weigern uns, das derzeitige politische Regime zu unterstützen", hieß es darin.
Stillstand nach Rubikon-Übertritt in Ukraine
Der ehemalige Geheimdienstoffizier warf Putin Feigheit und Inkonsequenz vor. Mit der Annexion der Krim habe der Kreml-Chef den "Rubikon überschritten", doch dann sei es zu einem unerwarteten und unlogischen Stillstand gekommen. Putin habe sich weder nach vorne getraut noch einen Rückschritt gewagt. "Er hat keine Ideen und scheint auf ein Wunder zu warten. Er steckt mitten im Sumpf fest", sagte Girkin über den Kreml-Chef im Gespräch mit dem "Guardian".
Er selbst hätte wohl – Cäsar gleich – keinen Halt beim Rubikon gemacht. Girkin wäre weiter auf sein Rom marschiert. Sein Ziel: "Die Vereinigung Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und anderer russischer Länder zu einem all-russischen Staat und die Transformation des gesamten Gebietes der ehemaligen Sowjetunion zu einer bedingungslosen russischen Einflusszone", so der ehemalige Separatisten-Kommandant in seiner Erklärung.
Der Traum vom all-russischen Imperium
Für den Traum eines russischen Nationalimperiums kämpfte er auch im Donbass – mit rabiaten Methoden. Selbst vor Hinrichtungen schreckte Girkin nicht zurück. Plündernde Separatisten-Kämpfer wurden unter seiner Führung erschossen. "Ohne eine strenge Disziplin und ein rächendes Schwert der Gerechtigkeit wäre die Situation unter Kriegsbedingungen nicht kontrollierbar gewesen", rechtfertigte er sich im Gespräch mit dem "Guardian". So aber hätte jeder seiner Soldaten gewusst, dass er für ein Verbrechen ebenso hart bestraft wird wie der Feind, wenn nicht sogar härter.
Immer wieder forderte Girkin Moskau zu einem direkten Einmarsch in die Ukraine auf. Ein Schritt, zu dem Putin damals nicht bereit war. Der Diktator war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht Diktator genug war. Das hat sich geändert. In der Ukraine führt er nun bereits seit einem Monat einen Krieg. Für Girkin gibt es aber in diesem Krieg keinen Platz.
Eine beschädigte Kultfigur
Für den Kreml ist er ein verbrannter Held. Im Sommer 2014 hatte sich Girkin gewissermaßen zum Nationalhelden entwickelt. Er selbst behauptete, zum größten Teil eine unabhängige Figur gewesen zu sein – für den Kreml vielleicht sogar zu unabhängig. Und zu beliebt. In Moskau hingen Plakate, auf denen er für Neurussland warb. Er war derjenige, der an der Front das russische Volk gegen die "ukrainischen Faschisten" verteidigte, während Putin für die Abendnachrichten Leopardenbabys streichelte.
Dann kam die entscheidende Zäsur: Schenkt man den ukrainischen Geheimdiensten Glauben, ist Girkin derjenige, der den Absturz des MH17-Flugs zu verantworten hat. Im Prozess zum Abschuss der Passagiermaschine über der Ostukraine, der seit 2020 in Amsterdam läuft, ist er einer der vier Angeklagten. Kurz nach dem mutmaßlichen Abschuss der Passagiermaschine veröffentlichte die Regierung in Kiew Audiomitschnitte, die ein Gespräch zwischen ihm und einem weiteren Rebellenführer über den Abschuss einer Passagiermaschine dokumentieren sollen.
Die Kultfigur war beschädigt. Wenige Wochen nach dem MH17-Absturz verließ Girkin die Ukraine und kehrte nach Moskau zurück. Seitdem stehe er auf einer schwarzen Liste, wie er gegenüber dem "Guardian" vor sechs Jahren berichtete. Im russischen Staatsfernsehen würde ihm keine einzige Sendeminute gewährt werden. "Für sie bin ich eine unbequeme Figur. Sie wissen nicht, was sie mit mir anfangen sollen: Bin ich ein Held oder ein Terrorist? Sie können mich nicht festnehmen und ins Gefängnis stecken, denn das würde als Eingeständnis gegenüber dem Westen gelten. Mich auszuzeichnen können sie genauso wenig, also sitze ich zwischen den Stühlen."
An seiner Lage hat sich offenbar bis heute nichts geändert.