Die Berichterstattung im Westen konzentriert sich auf die Abwehrerfolge der ukrainischen Armee. Und auf den ersten Blick wirkt es, als wäre es gelungen, die russischen Truppen um Charkow und Kiew herum zu stoppen. Hier sieht es so aus, als wäre Putins Plan gescheitert. Charkow ist kaum mehr als 20 Kilometer von der Grenze entfernt. Ein Blitzkrieg sieht anders aus.
Weniger im Blick ist die Lage im Süden der Ukraine, dort scheint Putins Kalkül weit eher aufzugehen. Die russischen Kräfte sind aus der Krim ausgebrochen und haben mit Cherson die erste ukrainische Großstadt unter ihre Kontrolle gebracht. Der kleine Hafen ist von zentraler Bedeutung für weitere Operationen. Im Osten, entlang der selbst ernannten Separatisten-Republiken, wurden die Truppen Kiews ungeachtet einzelner Abwehrerfolge entlang der gesamten Frontlinie aus ihrem gut ausgebauten Stellungssystem geworfen. Im Südosten kontrolliert Kiew noch die Hafenstadt Mariupol. Doch in ihr wird bereits gekämpft und der letzte freie Zugang wird von den Invasoren kontrolliert. Das mussten BBC-Journalisten gestern feststellen, als sie versuchten, die Stadt zu verlassen und russische Panzer plötzlich vor ihnen auftauchten.
Lebensader Dnjepr gekappt
Cherson ist eine 300.000-Einwohner-Stadt am Ufer des Dnjepr in der Nähe seiner Mündung in das Schwarze Meer. Ihre Kontrolle hat eine propagandistische Wirkung. Mit dem Bau eines Dammes hatte Kiew die Wasserversorgung der Krim unterbrochen, als eine der ersten Handlungen begannen die Eroberer den Kanal wieder zu fluten. Cherson blockiert schon jetzt den Zugang der Ukraine zum Meer über den Dnjepr. "Der Dnjepr ist eine wichtige Verkehrsader für die Ukraine, und seine Dämme versorgen einen Großteil der ukrainischen Industrie sowie die Zivilbevölkerung mit Strom", so Dr. Scott Savitz, leitender Ingenieur bei der RAND Corporation, der "Jerusalem Post". "Sie durchschneidet das Herz der Ukraine. Er ist für die Ukraine, was der Mississippi für die USA ist."
Moskau wird versuchen, beide Ufer des Dnjepr zu kontrollieren und über den Fluss die eigenen Truppen zu versorgen und so die bestehenden logistischen Probleme zu lösen. Sobald die Position in der Stadt gesichert ist und Putins Truppen sich neu formiert haben, werden sie versuchen, die freie Ukraine komplett von der Küste und der wichtigsten Hafenstadt Odessa abzuschneiden.
Die "Putinversteher": Wer jetzt noch zu Russland hält und warum

Von der EU wird Lukaschenko nicht als rechtmäßiger Präsident von Belarus anerkannt. Westliche Staaten werfen ihm Menschenrechtsverletzungen und Wahlbetrug vor. Trotz – oder möglicherweise gerade wegen – der Sanktionen gegen Belarus und Russland kündigten die beiden Staaten an, ihre Zusammenarbeit weiter auszubauen. Es sei schwer mit den Sanktionen, kommentierte Lukaschenko jüngst. "Aber sie werden uns nicht ersticken können."
Zentraler Hafen der Ukraine
Die Blockade oder Einnahme des Schwarzmeerhafens Odessa wäre ein "Würgegriff" für die ukrainische Wirtschaft. Vermutlich würden die Invasoren sich zunächst nicht direkt entlang der Küste bewegen, sondern im Hinterland bis nach Moldawien Vorstoßen. Der östliche Teil von Moldawien wird nicht von der Regierung kontrolliert, dort befindet sich seit den 1990er-Jahren, die von Moskau kontrollierte, selbst ernannte Republik Transnistrien. Putin würde dorthin eine Landbrücke schaffen. Einziges Hindernis auf dem Weg ist die 480.000 Einwohner zählende Stadt Mykolajiw.
Angesichts der Kämpfe in der Umgebung des Atomkraftwerks Saporischschja ist anzunehmen, dass sich Putins Truppen in der gleichnamigen Stadt ein zweites Sprungbrett über den Dnjepr verschaffen wollen. Die ukrainischen Truppen leisten in der Region hinhaltenden Widerstand, können in dem Gelände aber bislang keine Position halten. Anders als in den Großstädten laufen sie Gefahr umgangen zu werden. Zusammenstöße wurden schon bei Voznesensk gemeldet, das liegt bereits auf dem halben Weg zwischen Dnjepr und Moldawien.
Eine große amphibische Landung würde die Einkesselung Odessas vermutlich begleiten. Moskau hat eine stattliche Anzahl von Landungsschiffen im Schwarzen Meer versammelt, die derzeit vor der Krim kreuzen. Sie sind für diese Landung vorgesehen. Würde Odessa ohne ihre Hilfe eingenommen werden, bliebe ihnen keine Aufgabe in dem Krieg. Die ganze Küste wäre dann für Kiew verloren. Die Marine Kiews ist weitgehend zerstört, gestern ist das Flaggschiff, die Hetman Sahaidachny, gesunken. Unklar ist, ob Kiew noch über Abwehrbatterien an der Küste verfügt.
Hoher propagandistischer Wert
"Odessa ist die große Beute", sagte General Sir Richard Barrons der britischen "Times". "Nach dem Erfolg in Cherson würde man erwarten, dass die russischen Streitkräfte, die sich an der Küste befinden, sich nun weiter nach Westen zu bewegen, und es ist durchaus plausibel, dass sie dann irgendwo in der Nähe von Odessa eine amphibische Landung durchführen und über einige Tage hinweg eine Verbindungsoperation durchführen."
Ohne den Hafen wäre die Wirtschaft der Ukraine schwer getroffen. Alle Massengüter, einschließlich Getreide, werden auf dem Seeweg nach Europa transportiert. Odessa gehört zu den bekanntesten Städten der Ukraine, ihr Besitz oder Verlust hat neben dem strategischen einen enormen propagandistischen Wert. Insbesondere für Putins Legitimation des Krieges in Russland, hier kamen bei den Unruhen um das Gewerkschaftshaus 2014 zahlreiche Menschen ums Leben.
Die traurige Wahrheit der "Humanitären Korridore"
In diesem Licht müssen auch die Verhandlungen über "humanitäre Korridore" gesehen werden. Unfreiwillig sind sie ein Eingeständnis der ukrainischen Regierung in bevorstehende Niederlagen. Sie bedeutet nichts anders, als dass die ukrainischen Truppen die Zuwege zu großen Städten nicht werden freihalten können. "Humanitäre Korridore" entstehen, wenn es den Invasoren gelingt, große Städte komplett zu umschließen. Dann bleibt ein Zugang für Versorgungsgüter frei, über den Zivilsten fliehen können. Doch wird es keinen Zufluss von Munition, Nachschub oder Treibstoff für die Verteidiger mehr geben. Mariupol ist bereits in dieser Lage, Odessa, Charkow und auch Kiew könnten folgen.
Gut ausgebildete und motivierte Truppen können städtisches Gelände lange verteidigen. Unter großen Opfern, denn auch Waffen wie Stinger und Javelin werden nicht verhindern können, dass die Positionen der Verteidiger mit Artillerie aus der Ferne ausgeschaltet werden. So eine Belagerung kann von ihnen nicht von innen durchbrochen werden, das könnte nur durch bewegliche Operationen großer Verbände erreicht werden.
Quellen: Times; Jerusalem Post;