Als ich jung war, hatte ich eine Zeitlang massive Flugangst. Schon Wochen vor einer Reise konnte ich kaum schlafen und an fast nichts anderes mehr denken. War es dann so weit, geriet ich in Panik. Mehrere Flüge habe ich in Tränen aufgelöst verbracht.
Warum ich das erzähle? Weil mich die Debatte um Friedrich Merz daran erinnert. Der CDU-Chef hatte behauptet, abgelehnte Asylbewerber würden Deutschen die Zahnarzttermine wegnehmen. Was folgte, war erwartbar: eine erhitzte Debatte, bei der sich alle Seiten gegenseitig bepöbelten.
Die CDU scharte sich in weiten Teilen hinter ihren Vorsitzenden und warf Kritikern vor, die Realität zu leugnen. Für Vertreter anderer Parteien war es eine Steilvorlage, um Merz als Rassisten zu attackieren. Einige Ärzte gaben Merz recht, andere widersprachen ihm, darunter auch die Bundeszahnärztekammer.
Ich halte die Worte von Friedrich Merz für fahrlässig. Sie dienen nur dazu, den falschen Eindruck zu verstärken: “Die Ausländer nehmen uns alles weg”. Es ist bezeichnend, dass das rassistische Zerrbild vom „schmarotzenden Asylanten beim Zahnarzt“ zuvor von der AfD verwendet wurde. Dass deutsche Patienten wegen abgelehnten Asylbewerbern das Nachsehen haben, scheint – wenn überhaupt – ein Einzelfallphänomen zu sein. Und es ist falsch, Menschen, die ganz legal unsere medizinische Versorgung nutzen, dafür an den Pranger zu stellen.
Wann sind wir überfordert?
Doch hinter der Diskussion steckt eine andere Frage. Wie viele fremde Menschen kann eine Gesellschaft aufnehmen, ohne überfordert zu sein? Corona-Pandemie, Inflation, die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und Energiekrise haben den Menschen in diesem Land viel abverlangt. Nicht wenige haben den Eindruck, die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht zu haben.
Umfragen zeigen, dass die Inflation, steigende Lebensmittelpreise und nicht bezahlbare Wohnungen – kurz: die Angst vor Abstieg und Verarmung – derzeit zu den größten Sorgen der Deutschen gehören. Da ist es logisch, dass viele das Gefühl haben, nicht weiter großzügig alles teilen zu können.
Zugleich steigt die Zahl der Asylbewerber in Deutschland wieder deutlich. Zwar sind wir immer noch weit von den Zahlen aus dem Jahr 2016 entfernt: Damals wurden über 720.000 Erstanträge auf Asyl gestellt; 2023 waren es bisher etwas mehr als 200.000. Aber dieser Hinweis ignoriert die Tatsache, dass von den vielen, die damals kamen, die allermeisten immer noch hier sind. Und dass in der Zwischenzeit obendrauf noch einmal über eine Million ukrainische Flüchtlinge kamen.
Wer will schon das Gefühl haben, übergangen zu werden?
Das ist ein bisschen so, als würde man in das Haus eines Verwandten permanent fremde Gäste einquartieren. Aber ihn selbst niemals fragen, ob er damit einverstanden ist. Und ihn beschimpfen, wenn er sich beschwert, dass er sich langsam etwas beengt fühlt. Oder ihm erklären, dass er sich nicht so haben solle, sein Haus sei schließlich groß genug. Ich kann verstehen, wenn das bei manchen Wut auslöst. Wer will schon ständig das Gefühl haben, übergangen zu werden?
Wir müssen die Grenzen einer Gesellschaft (die buchstäblichen und die gefühlten) offen diskutieren können, ohne dass wir uns immer gleich vorwerfen, „Rassisten“ oder „Gutmenschen“ zu sein. Je eher wir es schaffen, ruhig und respektvoll darüber zu verhandeln, umso größer ist die Chance, dass sich das Land nicht noch weiter spaltet.
Denn klar ist auch: Für die Aufnahme von Flüchtlingen bedarf es der Bereitschaft einer Gesellschaft, sie zu integrieren. Geht dieser Wille mehrheitlich verloren, wird es nicht mehr funktionieren – zum Schaden beider Seiten.
Mit seinen populistischen Äußerungen hat Merz den Finger in diese Wunde gelegt. Das Problem ist, dass er – um im Bild zu bleiben – sich vorher nicht die Hände gewaschen hat. Er fummelte vielmehr gedankenlos und septisch darin herum und nahm dabei in Kauf, dass allerlei Keime in die Wunde eindringen und daraus dann eine noch viel gefährlichere Infektion entsteht.
Genauso gefährlich ist es aber, so zu tun, als ob es gar keine Wunde gäbe. Wer den Menschen permanent erzählt, dass sie keinen Grund haben, sich verletzt, verängstigt oder beunruhigt zu fühlen, der nimmt sie nicht ernst. Und ist damit nicht viel besser als die, die den Menschen einreden, dass all ihre Ängste der Realität entsprechen. Wohin das schlimmstenfalls führt, hat die Geschichte gezeigt. Spoiler: Nicht dazu, dass es den Menschen mit den Ängsten und Sorgen besser gegangen wäre. Im Gegenteil.
Womit wir wieder bei meiner Flugangst wären. Glücklicherweise war ich von Menschen umgeben, die sich nicht lustig über mich machten oder mich für meine Panik verachteten. Die mir keine Statistiken präsentierten, denen zufolge es viel gefährlicher ist, in ein Auto zu steigen als den Flieger zu nehmen, oder mir im Gegenteil erklärten, dass ich ja total Recht hätte und alle Flugzeuge verboten werden würden, wenn sie etwas zu sagen hätten. Ich konnte mit ihnen über meine Angst sprechen. Sie waren an meiner Seite, als ich ins Flugzeug stieg.
Und eines Tages war die Angst wieder weg.