Rückblende: Es ist der 30. September 2010: Das Bild eines Schwerverletzten geht um die Welt: Aus beiden Augen eines alten Mannes tropft Blut, es rinnt in seinen Bart, das rechte Auge scheint regelrecht aus der Höhle zu platzen, das linke ist zugekniffen.
Unter dem Motto "Bildung statt Prestigebahnhof" ziehen in Stuttgart um die Mittagszeit 2000 Schüler und Schülerinnen, ein paar Rentner und Rentnerinnen zum Oberen Schlossplatz, dorthin also, wo für den Tiefbahnhof jahrhundertealte Bäume gefällt werden sollen. Was sie nicht wissen: Auf sie warten dort Hundertschaften von Polizisten in Kampfanzügen, Polizisten auf Pferden, ausgerüstet mit Pfefferspray, Tränengas, Schlagstöcken, Wasserwerfer stehen bereit.
Ein paar Stunden später sind Hunderte Schüler und Bürger verletzt. Das Innenministerium spricht von 130, die Demonstranten zählen über 400 Verletzte, unter ihnen viele Schwerverletzte. Und ein Rentner, Dietrich Wagner, verliert an diesem Tag, der als "Schwarzer Donnerstag" in Stuttgarts Geschichte eingeht, fast sein Augenlicht.
Wie aggressiv damals die Ordnungsmacht vorging, zeigen polizeiinterne Videos, die mir 2015 zugespielt wurden: "Jetzt gang a mol dera a bissle auf die Beine, auf die Füße, da bei der in der grauen Jacke … hinten reinziehen." Ein Wasserstrahl donnert auf eine Frau, die eine Peace-Fahne schwenkt, sie fällt zur Seite, wieder trifft sie der Strahl des Wasserwerfers, sie kommt nicht hoch. "Franz" (Name geändert), "kannschd du en Meter vor?" Das sind Worte von Polizisten an diesem Tag. Gesprochen im Führerstand des Wasserwerfers.
Wasserwerfer, Tränengas, Reizgas, Schlagstöcke
Von einem "brutalen Polizeieinsatz" spricht sogar die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung. Man sei provoziert worden, erklärt die Polizei, man habe so agieren müssen. Die Polizeifilme erzählen eine ganz andere Geschichte. Sie erschüttern die Polizeiversion. Sie zeigen eine Polizei, die überaus aggressiv auf das Geschehen im Park reagiert.
Nochmals: Es sind Aufnahmen der Polizei. Das macht diese Videos einmalig und gibt ihnen eine besondere Wucht. Diese Filme, die von hoher technischer Qualität sind, sind aus zwei Perspektiven aufgenommen: Einmal aus dem Führerstand eines Wasserwerfers, das andere Mal aus der Sicht hinter und in Polizeiketten beim Einsatz von Pfefferspray.
Man sieht, wie mit Pfefferspray, eigentlich eine Verteidigungswaffe, aus großer Nähe auf junge Menschen gesprüht wird – das ist verboten.
Mir wurden damals auch polizeiinterne "Handhabungsweise für Reizstoff-Sprühgeräte (RSG) mit Pfefferspray" zugeschickt und auch die Vorschriften über den Einsatz von Wasserwerfern. Danach ist es grundsätzlich unzulässig, mit dem Spray unter einem bis zwei Metern zu agieren, grundsätzlich unzulässig ist auch der Einsatz gegenüber Schwangeren und Kindern. Das Spray wirke schlagartig und löse intensiven Schmerz aus. Verpflichtend sei es, sobald als möglich den mit Pfefferspray Beschossenen zu helfen. Beim Einsatz vom Wasserstoß, der Straftaten und das Vordringen von Störern verhindern und Gewalttäter zum Rückzug zwingen soll, sei darauf zu achten, dass Köpfe nicht getroffen werden.
Aber auf diesen Polizeifilmen sieht man nun: Wie mit starken Wasserstößen auch auf Kopfhöhe geschossen wird, man sieht, wie ein Bürger vom Wasserstrahl am Hinterkopf getroffen wird, man sieht für einen Moment einen grauen alten Mann, wie er Richtung Wasserwerfer blickt – noch sind seine Augen gesund. Er hält die Arme nach oben, als wolle er sich schützend vor die Schulkinder stellen.
an sieht die Hand eines Polizisten, wie er immer wieder Spray in die Menge spritzt, immer wieder. Vor ihm stehen vor allem Jugendliche, Schüler, sie ziehen die Köpfe ein, halten die Arme vors Gesicht. Die Kamera schwenkt. Jugendliche kommen unter einem Zeltdach hervor, sie husten, würgen. Eine Frau hält sich an einer Stange fest und hustet, Schülerinnen halten sich Tücher vor den Mund und die Nase, auch sie husten.
Auch das zeigen diese Filme: Die Demonstranten verhalten sich passiv. Sie attackieren nicht, sie werfen keine Steine, da ist niemand vom Schwarzen Block, da sind keine Böller, da ist keine Randale, die Leute drängeln ein bisschen, sie schubsen, aber vor allem machen sie Krach mit Rasseln und Trillerpfeifen, sie stehen oder sitzen herum, nach einer Pfeffersprayattacke rufen sie: "Dass ihr euch ned schämd, dass ihr euch ned schämd!" Und dann gibt es Panikschreie.
"Wir sind friedlich, was seid ihr?"
Auch das zeigen diese Filme: Wohl noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Polizei dermaßen aggressiv gegen Bürger vorgegangen, die sich selbst im Spannungszustand so brav verhalten haben.
Der Blick aus dem Wasserwerfer: Ein paar Jugendliche, die vor dem Wasserwerfer stehen, skandieren: "Wir sind friedlich, was seid ihr?" Ein junger Mann blickt hoch zu den Polizisten im Cockpit, ein anderer macht ein V-Zeichen. Eine männliche Stimme im Wasserwerfer sagt auf schwäbisch: "Ok, mir fahred a bissle rein." "Wie viel Prozent?" "Also 4 Bar, Wassersperre." "Hundert Prozent, ja vier Bar, woisch." Vor der Windschutzscheibe taucht ein Jugendlicher auf, deutet an, wir sitzen direkt unter euch. "Also keine Wassersperre, ja?" Halt. "Wasserregen, Wasser marsch." Stimmengewirr, die Jugendlichen gehen zur Seite: "Wasserregen. Hundert Prozent rauf … Geben Sie die Straße frei … Wir setzen weiter Wasser gegen Sie ein." Plötzlich schießt mit voller Härte Wasser aus den Rohren – mitten in die Menschen.
Der Blick aus den Polizeireihen beim Einsatz von Pfefferspray. Der Timecode im Bild: 30.09.2010 – 15:13: Die Kamera schwenkt wacklig hoch, ein Polizist in schwarzer Montur sagt zu einem Kollegen: "Wenn ihr mal des Pfefferspray einfach den Handschuh, ne, und ins Gsicht reiben einmol." "Ja." "Des isch einfach so a Ding auf de Handschuh und einfach mol ins Gesicht gerieben … und wenn der ne Plane hat, dann unter die Plane … dann erwischt es zwar auch eine paar andere aweng, aber mein Gott!"
Verstoß gegen sämtliche Dienstvorschriften
Das ist ein Gespräch zwischen Polizisten, die über den Einsatz von Pfefferspray reden. In diesem Dialog sieht der Staatsanwalt und Richter a. D. Dieter Reicherter eine "Verbrechensverabredung". Dass man diesen Satz auf einem Polizeifilm hat, ist für ihn "eine Sensation".
Reicherter hat bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eine Strafanzeige gestellt. Seine Begründung: "Dieser Dialog kann nur so verstanden werden, dass die Polizisten beschlossen, im Verstoß gegen sämtliche Dienstvorschriften, vor allem dem Verbot, auf keinen Fall Pfefferspray gegen Kinder einzusetzen, zu handeln." Er hat die unbekannten Polizisten auch deshalb angezeigt, weil beim Einsatz von Pfefferspray, das ins Gesicht gerieben wird, "die Gefahr von Erblindung" bestehe und bei Allergikern "sogar der Tod durch Ersticken" möglich sei.
Reicherter war an diesem 30. September 2010 im Schlosspark. Er war damals frisch pensioniert und wollte einfach mal schauen, "was da los ist". Er war geschockt, ihm kam es vor "wie im Bürgerkrieg". Diese Stunden im Park haben ihn schlagartig politisiert. Er fing an, als Privatmann mit Verletzten zu reden. Auch wegen seiner Recherchen kam Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf vor Gericht.
Dass die Polizei mit präparierten Handschuhen gegen Jugendliche vorging, davon ist der Ex-Staatsanwalt überzeugt. Er hat die Aussage eines 14-Jährigen protokolliert: "Ich wurde von einem Polizisten am Kopf gepackt, er zog mich an sich heran und rieb mir mit der Hand (trug Handschuhe, die innen mit Metall oder ähnlichem beschlagen waren) das Pfefferspray brutal ins Gesicht … Ich fürchtete, dass er meine Nase brechen würde, ist einigen Schülern passiert, schreien konnte ich nicht, weil mir der Mund zugehalten wurde."
Der Schwarze Donnerstag
Fast fünf Jahre lang zog sich der sogenannte Wasserwerferprozess hin. Im November 2015 stellte das Landgericht Stuttgart das Verfahren gegen zwei Einsatzleiter ein. Sie wurden wegen "leichter Körperverletzung" zu 3000 Euro verurteilt. Im Frühjahr 2016 bestrafte das Gericht den damaligen Polizeichef Siegfried Stumpf: zu 120 Tagessätzen à 130 Euro. Die angeklagten Demonstranten wurden auch wegen dieser Polizeivideos freigesprochen.
Für Dietrich Wagner, der fast erblindet und auch sehr verbittert ist, sind diese Urteile jedoch keine Genugtuung. Er wartet immer noch auf eine Entschuldigung des damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU). Ihn hält er für verantwortlich für den harten Polizeieinsatz.
So sieht es auch Reicherter, der hofft, dass seine Anzeige auch dazu führt, neu über die damaligen Ereignisse zu reden. Allerdings: "Den Glauben an die Objektivität bei der Wahrheitsfindung der Justiz", sagt er, "habe ich in den vergangenen Jahren verloren. Mappus wird wohl nie angeklagt werden."
Lesen Sie auch: