Am Ende steht er wieder allein im Wiener Ernst-Happel-Stadion, die Kollegen sind längst in der Kabine verschwunden. Schwer liegt die Schwüle noch über dem Rund, als habe da einer vergessen, die Tür zum Dampfbad zu schließen. Doch Mario Gomez spürt die Hitze nicht. Nicht jetzt. Nicht hier, an jenem Ort, an dem alles begann und nun endlich alles endet. Beide Tore hat er zum 2:1-Sieg der Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation gegen Österreich beigetragen und damit nicht weniger als einen persönlichen Zyklus zum Abschluss gebracht.
Ein Akt der Katharsis ist es gewesen, nicht weniger. "Ich hatte keine Angst, auch nicht in diesem Stadion. Es war eine schwere Zeit für mich. Es ist auch nicht so, dass ich es komplett rumgerissen habe", sagt Gomez also ruhig, doch er ist aufgekratzt, man sieht es ihm an, zu viel bedeutet ihm der Moment.
Das Trauma liegt drei Jahre zurück
Genau drei Jahre ist es her, dass an selber Stelle seine Karriere in der Nationalmannschaft gegen den gleichen Gegner eine unheilvolle Wende nimmt. Im dritten Vorrundenspiel der Europameisterschaft schenkt Gomez den DFB-Archiven eines der spektakulärsten Nichttore der Geschichte. Aus einem Meter Entfernung vor des Gegners Tor wird er von einer Hereingabe dermaßen überrascht, dass er den Ball nicht ins Tor schiebt.
Es ist der Moment, der die Karriere des aufstrebenden Stürmers Mario Gomez in ein vorher und nachher unterteilt. Zwar gewinnt Deutschland das Spiel 1:0, doch Gomez avanciert zur unerwünschten Person beim eigenen Anhang. Er ist jetzt der junge arrogante Hund mit den schönen Haaren, der sich nicht reinhängt, verträumt. Was für ein Kontrast zum stetig rackernden Klose. Gomez ist überfordert mit der Situation, man kann ihm förmlich zusehen, wie ihm das eigene Selbstvertrauen durch die Finger rinnt.
Selbst in den eigenen Stadien pfeifen sie jetzt, wenn er sich die Trainingsjacke abstreift. Gomez leidet schwer, auch wenn er nicht klagen mag. Es zerrt an seinem Selbstvertrauen, längst heißt es, er sei keiner mehr für die Nationalmannschaft, nur einer, der im Verein funktioniert. Doch auch dort, beim FC Bayern, hält ihn der Trainer Louis van Gaal für ein Leichtgewicht.
Doch Gomez gibt nicht auf, er kämpft sich zunächst beim FC Bayern in die Stammelf, liefert Tore am Fließband und beginnt plötzlich auch im Nationaltrikot wieder zu treffen. Zuletzt in Sinsheim gegen Uruguay gelingt ihm ein sehenswertes Solo.
DFB-Elf wankt
Mittlerweile pfeifen sie zumindest nicht mehr. Doch es fehlt noch ein großer Moment, ein Tor für die Nation. Ein Geschenk an die Kurve, an das sich der Fan zurückerinnern kann. Es sollte gestern Abend kommen. Nach einer Ecke fällt Gomez in der 45. Minute der Ball vor die Füße, er steht erneut vor genau jenen Stangen, die ihm noch vor drei Jahren wie vernagelt schienen. Er fühlt sich gut diesmal, trotz allem, 28 Saisontore allein in der Bundesliga haben einen Panzer über all die Zweifel gelegt, die da noch schwären mögen.
Reflexartig tritt er zu, wie von einer Fernbedienung gelenkt kullert das Leder ins linke untere Toreck. Österreich stürmt danach wütend, Österreich kämpft leidenschaftlich gegen eine deutsche Elf, die den Überblick zu verlieren droht und durch ein Eigentor von Arne Friedrich den Ausgleich kassieren muss. Das Spiel wankt wie ein Tanker auf hoher See, im Stadion brüllen 40.000 Österreicher, sie spüren wie der große Nachbar wankt. Das Unentschieden verteidigen, längst geht es nur noch darum.
Siegtor in letzter Minute
Längst hat die Elf sich damit abgefunden haben, dass im sechsten Spiel dieser Qualifikation diesmal zum ersten Mal kein Sieg stehen wird. Noch einmal fliegt ein Ball in den österreichischen Strafraum, es ist der letzte Akt, das Finale eines Spiels, das die Gastgeber mit Begeisterung geführt haben. Gomez sieht das Leder kommen, es fliegt wie in Zeitlupe auf ihn zu. Satt trifft er es mit seiner Stirn. Er spürt gleich, dass es die Entscheidung sein wird. Sogleich reist er sich das Trikot vom Körper. Die deutsche Kurve versinkt in Ekstase. Dies ist er, sein persönlicher Sieg. Er allein hat ihn gebracht, mit zwei Gedankenblitzen.
Noch vertritt er nur den Kollegen Klose, dem er im Verein längst den Rang abgelaufen hat. Vielleicht muss Mario Gomez tatsächlich noch einmal auf die Bank, auch wenn es schwer fällt zu glauben, wenn man ihn auf seiner Tor-Tour durch Europas Stadien in dieser Saison begleitet hat. Die Pfiffe werden auf jeden Fall fortan verstummen, wenn er sich warmläuft, am Rande des Feldes. Man wird nicht mehr von diesen zwei Gomez’ sprechen, den aus der Nationalmannschaft und jenem aus dem Klub. In einer schwülheißen Nacht in Wien, jenem Ort, an dem sich ihre Wege trennten, hat Mario Gomez sich wieder mit sich vereint. Drei Jahre hat es gedauert. Viel deutet darauf hin, dass die beiden sich nicht so schnell noch einmal trennen lassen.