Keiner verkörpert den FC Bayern so sehr wie Uli Hoeneß. Nicht Jupp Heynckes, nicht Karl-Heinz Rummenigge auch nicht die beiden Kapitäne Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger, es ist der Präsident, der für diesen Klub steht. Hoeneß ist Bayern und Bayern ist Hoeneß. Als dieses nervenaufreibende Fußballspiel im Estadio Santiago Bernabéu von Madrid schließlich nach einem Elfmeterschießen voller Wendungen zu Ende war, konnte man sich davon eindrucksvoll überzeugen. Hoeneß hatte sich in den Minuten nach dem letzten verwandelten Schuss von Bastian Schweinsteiger, der den 3:1-Sieg n.E. schließlich perfekt gemacht hatte, von der Ehrentribüne auf in Richtung Spielfeld gemacht.
Unten angekommen sprang er zunächst Jupp Heynckes an und erdrückte den Trainer fast, danach waren die Spieler an der Reihe. Das Besondere an der Szene: Aufgereiht wie an einer Perlenschnur warteten die Alabas, Ribérys und Gustavos brav hintereinander, um die Gratulation des Präsidenten entgegennehmen zu dürfen. Dabei hätte man meinen können, dass dieser Mannschaft in der Stunde ihres größten Triumphes der Sinn nach etwas anderem stehen würde. Aber nein, bei den Bayern empfinden es die Spieler als große Ehre, von Uli Hoeneß beglückwünscht zu werden. Und jeder Einzelne aus diesem famosen Kollektiv hatte sich das auch verdient.
Sie hatten ihn eine ganze Champions-League-Saison lang gelebt, den Traum vom Endspiel am 19. Mai im eigenen Stadion. Nun haben die Bayern es tatsächlich geschafft. Sie sind angekommen im Paradies. Aber der Weg dorthin war ein mittlerer Höllenritt, der an Dramatik nicht zu überbieten war. Genau das hatten die Verantwortlichen von Real Madrid vor der Partie ja auch angekündigt. Sie prophezeiten ihrem Gegner "die Hölle". Und als sich Jupp Heynckes nach 20 Minuten in diesem Halbfinal-Rückspiel der Champions League erstmals von seiner Bank erhob und die sogenannte Coaching-Zone betrat, muss sich der Bayern-Trainer auch genauso gefühlt haben.
Robbens Tor die logische Konsequenz
Genau sechs Schritte bewegte sich der Coach nach vorne. Während José Mourinho zur selben Zeit wie ein aufgebrachter Stier nebenan auf und ab schnaufte und dabei wild gestikulierte, erstarrte Heynckes mit verschränkten Armen vor der Brust zur Salzsäule. Er sah dabei wie ein verzweifelter Trainer aus. Sein Team lag zu diesem frühen Zeitpunkt durch die beiden Tore von Cristiano Ronaldo (6./14.) mit 0:2 hinten. Heynckes’ nicht vorhandene Körpersprache ließ für den weiteren Verlauf des Abends Böses erahnen.
Aber es gab aus Sicht der Bayern – bis auf das erschütternde Ergebnis – eigentlich gar keinen Grund zur Sorge. Denn zum Glück hatten sich die Spieler nicht von der anfänglichen Lethargie ihres Trainers anstecken lassen. Abgesehen von den ersten zehn Minuten, in denen die Königlichen wie eine Naturgewalt und angetrieben von einem fanatischen Publikum über den Rasen fegten, spielten sie nämlich von Minute zu Minute besser. "Ich wusste, dass Real Madrid sofort attackieren würde. Doch anfangs hatten wir dann trotzdem große Probleme. Danach haben wir uns gefangen und anschließend überragenden Fußball gespielt", bilanzierte Jupp Heynckes hinterher.
Dass Arjen Robben per Elfmeter in der 27. Minute der so enorm wichtige Anschlusstreffer gelang, war kein Zufall. Das 1:2 aus Sicht der Bayern war nur logisch. Zwar hatte auch Real, angetrieben vom starken Mesut Özil, vor allem in der ersten Hälfte dieses großen Spiels reihenweise gute Chancen, aber die Gäste aus München waren auch nach dem Seitenwechsel das ballsicherere und kompaktere Team - auch wenn die Defensive der Bayern ein ums andere Mal bedenklich wackelte. Dankenswerterweise standen Madrids Abwehrrecken ihrem Gegner diesbezüglich aber in nichts nach. Es war beeindruckend, wie sehr das Münchner Kollektiv gegen die Individualisten von Real arbeitete, dabei aber auch selbst immer wieder ein Offensivspektakel zelebrierte. Arjen Robben, Toni Kroos, Philipp Lahm und auch Bastian Schweinsteiger waren auf Seiten des deutschen Rekordmeisters die dominierenden Spieler.
"Ich dachte, ich sterbe"
Jener Schweinsteiger hatte vor dem Match eine Vorahnung. "Es kommt auf die Mentalität an. Ich hoffe, dass wir die Mentalität ausstrahlen, für die der FC Bayern steht", das waren die Worte des Vize-Kapitäns kurz vor dem Abflug in die spanische Hauptstadt. Am Ende war die eigene Willensstärke auch mitverantwortlich dafür, dass Real in der regulären Spielzeit kein weiterer Treffer mehr gelang – und es nach einer eher ruhigeren Verlängerung mit ausnahmsweise wenigen Höhepunkten ins Elfmeterschießen ging. Logischerweise beschränkten sich beide Mannschaften, so kurz vor dem großen Ziel, in dieser Phase der Partie vor allem darauf, keine Fehler zu machen.
Was dann folgte, beschreibt ein Wort am Besten: Wahnsinn. "Als der Lahm verschossen hat, habe ich gedacht, ich sterbe. Das war das Spiel der Spiele, das Elfmeterschießen war kaum auszuhalten", meinte im Anschluss ein aufgewühlter Uli Hoeneß. Der famose Manuel Neuer hatte zuvor die Schüsse von Ronaldo und Kaká parieren können, aber auch Reals Keeper Iker Casillas fischte Toni Kroos’ Schuss und den Elfmeter von Philipp Lahm aus den Torecken. Dass schließlich Sergio Ramos über den Kasten schoss und ausgerechnet Bastian Schweinsteiger den entscheidenden Elfmeter versenkte, war bezeichnend. Stichwort: Willensstärke. Aus dem Mund des Torschützen hörte sich das hinterher so an: "Vor dem Elfmeterschießen habe ich kurz meine Eier verloren, aber ich habe sie zum Glück rechtzeitig wiedergefunden." So etwas nennt man Siegermentalität.
Zeit für Titelträume
Jetzt also steht der FC Bayern im Endspiel der Königsklasse, zum neunten Mal in der Vereinsgeschichte. "Finale dahoam" war auf vielen Plakaten im Bayern-Block hoch oben unter dem Dach des Bernabéu-Stadions zu lesen. In München, im eigenen Wohnzimmer, geht es am 19. Mai nun gegen den FC Chelsea, der völlig überraschend Barcelona ausschalten konnte. Die Mannschaft von Jupp Heynckes wird sich gegen ihre Favoritenrolle nicht wehren können. Der Druck wird noch ein Stückchen größer sein. Die Fans erwarten den Titel. Aber daran verschwendete in der magischen Nacht von Madrid noch keiner der Bayern einen Gedanken. Und wenn, dann vielleicht nur Uli Hoeneß.
Als das Stadion längst leer war und die 5000 mitgereisten Fans aus München sich mit den Spielern zu immer neuen Jubelorgien aufschwangen, betrat der Präsident mit dem rot-weißen Vereinsschal um den Hals für eine kurze Zeit den Rasen und blickte in den Himmel. Kurz vor Mitternacht zeigte sich zum ersten Mal der Mond über dem Nachthimmel von Madrid. Die schmale Sichel leuchtete über dem dunklen Innenraum des Stadion. Es war eine wundersame Stimmung. Eine zum Träumen.