Die Niederlage war noch keine halbe Stunde alt, da wurde es im Kabinengang bereits grundsätzlich. Ilkay Gündogan beklagte "fehlende Reife, vielleicht auch Qualität", Leon Goretzka vermisste "Gier vor dem Tor" und Manuel Neuer "Bälle, die eine Message haben".
Das war die Analyse der Unfallbeteiligten nach dem 1:2 gegen Japan am Mittwochnachmittag. Die deutschen Fußballer hatten sich zwei Mal überfahren lassen von den Japanern, und das ging so schnell, dass niemand mehr ganz genau wusste, was genau passiert war am Unfallort, dem Khalifa International Stadium von Doha. "Ich hab's noch nicht im Video gesehen", sagte Goretzka über das Siegtor der Japaner, "auf dem Platz hat es sich jedenfalls ungefährlich angefühlt." Joshua Kimmich mutmaßte: "Ich glaube, wir wollten da auf Abseits spielen." Aber ganz sicher war er sich da aber nicht.
Zu viel Politik, zu wenig Fußball?
Die Niederlage ließ verstörte Spieler zurück, und auch wenn die DFB-Videoanalysten in den nächsten Tagen so manche Gedächtnislücke werden schließen können mit archivierten Bewegtbildern, so werden Irritation und Befremden so schnell nicht weichen aus dem deutschen Lager. Denn diese Auftaktniederlage wird Debatten befeuern, die man unbedingt hatte beenden wollen. Und diese reichen weit über das rein Sportliche hinaus: Der Wirbel um die "One Love"-Binde, das Einknicken vor der Fifa und die Empörung darüber in Deutschland – war das alles zu viel? Zu viel Politik, zu wenig Konzentration aufs Kerngeschäft, den Sport?
DFB-Elf in der Einzelkritik: Zu viele Spieler patzen, zwei machen die größten Fehler
Der allseits gelobte Teamspirit, elf Freunde auf dem Platz und noch ein paar mehr auf der Ersatzbank – nur eine leere Behauptung? Wer Manuel Neuer nach dem Spiel reden hörte, seine Klage, es gebe zu wenig Hilfsbereitschaft auf dem Platz, "Basics, die jeder mitbringen muss, wenn er für Deutschland spielt" – der konnte schon Zweifel bekommen am Betriebsklima in der Mannschaft.
Erinnerungen an die WM 2018 werden wach
Und natürlich war nach dem Spiel wieder die Rede von 2018, vom 0:1 gegen Mexiko im ersten Vorrundenspiel der WM in Russland. Mexiko, das war der Beginn einer kurzen, unheilvollen Reise, die für die Deutschen bereits nach der Gruppenphase endete. Dieser Dämon wurde am Mittwoch geweckt, die Parallelen sind ja offensichtlich: Ebenso wie Mexiko galt Japan als eher schwächerer Gegner. Ebenso wie Mexiko hatte Japan das deutsche Spiel sehr genau gelesen und dessen Schwächen offengelegt.
Und die liegen, damals wie heute, in der Abwehr. Bundestrainer Hansi Flick hatte es Japan recht leicht gemacht, indem er seine Defensive sehr eigenwillig formierte. Auf die Position des rechten Außenverteidigers stellte er Niklas Süle, der eigentlich im Zentrum spielt. Süle fremdelte auf der neuen Position, er schob die Bälle meist zur Seite oder zu Torwart Neuer zurück, mehr fiel ihm nicht ein. Und dann hob er auch in der 83. Minute das Abseits auf, was prompt zum 2:1 für Japan führte.
Abwehr – die Schwachstelle gegen Japan
Nico Schlotterbeck, der neben Antonio Rüdiger in der Innenverteidigung spielte, machte es nicht besser. Er gewährte seinen Gegenspielern zu viel Freiraum; auch das wurde mit einem Tor bestraft.
Zur Abwehr-Debatte kommt nun noch die leidige Mittelstürmer-Debatte. Kai Havertz half gegen Japan vorn aus – und traf nichts. Ebenso wenig wie Niclas Füllkrug und Youssoufa Moukoko, die eingewechselt wurden. Dass es dem DFB-Team an Strafraumstürmen mangelt, ist seit dem Rücktritt von Miroslav Klose 2014 ein bekanntes Problem. Lange konnte das kompensiert werden, indem offensive Mittelfeldspieler Aufgaben im Angriff übernahmen. Am Mittwoch hatten Jamal Musiala, Serge Gnabry und auch Ilkay Gündogan beste Chancen und nutzen sie nicht.
Beladen mit Debatten und Dämonen geht die deutsche Mannschaft in die Partie gegen Spanien. Diese zweite Vorrundenpartie ist bereits ein Endspiel für das DFB-Team. Bei einer Niederlage sind ist das Turnier bereits nach der Gruppenphase beendet. So wie schon 2018.