Altkanzler Gerhard Schröder sieht trotz des russischen Krieges gegen die Ukraine keinen Anlass, sich von Russlands Präsident Wladimir Putin zu distanzieren. "Ich habe mehrfach den Krieg verurteilt, das wissen Sie. Aber würde eine persönliche Distanzierung von Wladimir Putin wirklich irgendjemandem etwas bringen?", fragte das SPD-Mitglied Schröder den stern und den Sender RTL/ntv in einem großen Interview.
Darin plädiert Schröder dafür, die auf Eis gelegte Ostseepipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. Auch findet der 78-Jährige, dass Deutschland nicht genug für eine Beendigung des Krieges tut.
Schröder war in der vergangenen Woche in Moskau, dabei traf er auch Putin, wie er jetzt in dem Interview sagte. "Die gute Nachricht heißt: Der Kreml will eine Verhandlungslösung", lautet Schröder Fazit. "Ich halte diesen Krieg für einen Fehler der russischen Regierung", machte der Altkanzler zugleich deutlich. Bei Deutschland und Frankreich sieht er eine besondere Verantwortung, zu einer Beendigung des Krieges beizutragen. "Da geschieht derzeit nicht genug, ist mein Eindruck, denn eines ist doch klar: Es wird nicht ohne Gespräche gehen."
Gerhard Schröder: "Vielleicht kann ich noch mal nützlich sein"
Auf die Frage nach Distanzierung von Putin antwortete Schröder: "Muss ich denn über jedes Stöckchen springen, das mir hingehalten wird? So bin ich nicht. Ich habe da Entscheidungen getroffen, und dazu stehe ich, und ich habe klargemacht: Vielleicht kann ich noch mal nützlich sein. Warum soll ich mich also entschuldigen", fügte Schröder hinzu und verwies darauf, dass er aus Deutschland Zustimmung erfahre.
In der Gaskrise empfiehlt Schröder die Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2. Der Altkanzler ist dort Präsident des Verwaltungsrates. Das wäre die "einfachste Lösung" bei möglichen Gasengpässen. "Sie ist fertig. Wenn es wirklich eng wird, gibt es diese Pipeline, und mit beiden Nord-Stream-Pipelines gäbe es kein Versorgungsproblem für die deutsche Industrie und die deutschen Haushalte", sagte Schröder.
So kommentieren die Zeitungen in Deutschland das Schröder-Interview von stern und RTL/ntv:
"Münchner Merkur": "Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder ist ein politischer Hochstapler: ein lupenreiner Agent Putins, der sich aber als ehrlicher Makler zwischen dem Westen und dem Diktator im Kreml ausgibt. In dessen Auftrag treibt Schröder einen Keil in die Gesellschaft, indem er die von Krieg und Inflation tief verunsicherten Bundesbürger gegen die eigene Regierung aufbringt und den Menschen russische Verhandlungsbereitschaft vorgaukelt. Die aber gibt es nicht. Was Putin wirklich will, haben seine Handlanger in entwaffnender Offenheit verraten: Russlands Grenzen, so drohte gerade der Kreml-Hassprediger Dimitri Medwedew Georgien und Kasachstan, 'enden nirgendwo'. Schröder beteiligt sich am Propagandakrieg eines wölfischen Regimes gegen das Land, von dem er einst als Kanzler Schaden abzuwenden versprach. Das ist beispiellos. Wenn die SPD je einen Grund hatte, ein Mitglied auszuschließen, dann jetzt. Allzu lange sollte sich die SPD damit aber nun nicht mehr Zeit lassen. Sonst fällt der lange Schatten ihres Ex-Kanzlers auf sie."
Parteiausschluss – auch diese Genossen hat die SPD einst aus der Partei geworfen
"Frankfurter Rundschau": "Gerhard Schröder hat mit seinem Freund, dem Kriegsherrn Wladimir Putin, gesprochen. Die gute Nachricht sei, der Kreml wolle eine Verhandlungslösung für die Ukraine, behauptet der SPD-Mann. Die schlechte Nachricht ist: Der einstige deutsche Kanzler macht sich zur Marionette Putins. Putin hat sein Nachbarland überfallen und zerstört es, um es ganz zu erobern. Dass er die Krim schon 2014 annektiert hat, nimmt Schröder als gegeben hin. Ach, und die auf Eis gelegte Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wäre ihm zufolge ja die Lösung für mögliche Gasengpässe. Muss man nur in Betrieb nehmen, sagt Schröder, der dort Präsident des Verwaltungsrates ist. Nein, man muss nur Gas durch Nord Stream 1 leiten, was Russland lediglich zu 20 Prozent tut mit dem fadenscheinigen Argument, dass eine Turbine fehle. Die steht aber lieferfertig bei Siemens in Mühlheim an der Ruhr. Die einzig richtige Lösung wäre, dass Putin seinen Krieg beendet. Bedingungslos. Dafür sollte sich Schröder einsetzen."
"Rhein-Neckar-Zeitung": "Der Tag ist gar nicht lange genug, als dass der ganze Ärger hineinpassen würde, den der Altkanzler mit seiner männerbündischen Freundschaft zu Russlands Präsident Putin verursacht. Vor allem wenn man an die pekuniären Aspekte denkt: Der Privatier Gerhard Schröder verdient mit seinem Gazprom-Job an einem Projekt, das er als Bundeskanzler politisch erst ermöglichte. Das ist empörend. Und weit unter der Würde des Amtes. Dass wiederum die SPD sich an diesem schamlosen Selbstbedienungsmodell erst stört, seitdem Schröders 'Freund' Putin einen brutalen, völkerrechtswidrigen Krieg auf dem europäischen Kontinent angezettelt hat, ist verwunderlich."

"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Altkanzler Gerhard Schröder macht wieder Schlagzeilen: Nach seinem Besuch in Moskau vergangene Woche hält der 78-Jährige eine Verhandlungslösung mit Wladimir Putin im Ukrainekrieg für möglich. Und Schröder sieht in der Nutzung der gerade fertiggestellten Gaspipeline Nord Stream 2 die 'einfachste Lösung' für Deutschlands und Europas Not bei der Gasversorgung im kommenden Winter. Schröder schürt Hoffnungen bei den Menschen, und darin liegt die eigentliche Gefahr. Denn so einfach sind die Probleme nicht zu lösen. Putin ist ein perfider Kriegsherr und skrupelloser Diktator. Bestenfalls lässt sich Putin von Schröder tatsächlich etwas sagen, schlimmstenfalls – und das ist wahrscheinlicher – wird er von Putin instrumentalisiert."
"Nordbayerischer Kurier": "Der 'Basta-Gerd' kann halt nicht aus seiner Haut. Schröder macht sein Image mit seiner Uneinsichtigkeit endgültig kaputt. Das ist tragisch. Zwar war er stets ein Mann mit schwierigem Charakter, aber in seiner Amtszeit hatte er auch Verdienste – etwa die mutige Entscheidung, dass sich Deutschland nicht am Irak-Krieg beteiligt."
"Rhein-Zeitung": "Welchen Einfluss Schröder bei Putin tatsächlich hat, lässt sich kaum einschätzen. Ob er wirklich einen hilfreichen Beitrag leisten kann, wie er selbst vorgibt, ist jedenfalls unwahrscheinlicher als die gegenteilige Lesart: Putin benutzt Schröder zu eigenen Propagandazwecken. Ist dem so, wäre das ein weiterer Tiefpunkt, der Schröders ohnehin ramponierte Reputation nochmals mindert. Ein Parteiausschlussverfahren dürfte allerdings an den zu hohen rechtlichen Hürden scheitern. So bleibt nur ein hilfreicher Hinweis von Schröder: Es muss weiterhin alles versucht werden, auf diplomatischem Weg mit Putin zu einer Einigung zu kommen."
"Schwäbischen Zeitung": "Es fällt leicht, sich über Altkanzler Gerhard Schröder zu empören. Der SPD-Politiker weigert sich beharrlich, öffentlich auf Distanz zum russischen Präsidenten Wladimir Putin zu gehen. Schröder tut wenig dafür, nicht wie der 'Laufbursche Putins' zu wirken. Zur Wahrheit gehört, dass er offensichtlich als einziger in seiner Partei noch einen Zugang zum russischen Präsidenten hat. Anstatt von Schröder zu fordern, sich von Putin zu distanzieren, sollten sich die Gegner Russlands eher überlegen, wie sie seine Kontakte nach Moskau für ihre Zwecke nutzen können. Verhandler kann man sich nicht immer aussuchen. Wenn Schröder aber den angeblichen Verhandlungswillen des Kremls als 'gute Nachricht' verkündet, nimmt er den Blickwinkel des russischen Aggressors ein. Es ist aber nicht die Sache Moskaus, nicht einmal der westlichen Unterstützer der Ukraine, zu verkünden, ob das souveräne Land bereit für Verhandlungen ist. Das muss die Regierung in Kiew entscheiden."
"Südkurier": "Deutschland soll also verhandeln. Das ist Gerhard Schröders Fazit, das er aus seinem Russland-Besuch gezogen und in einem Interview nun ausführlich erklärt hat. Denn im Grunde genommen, so liest sich der Subtext, sei der Westen an der Ukraine-Misere selbst schuld. Es ist schon bemerkenswert, wie falsch der SPD-Mann damit liegt. Und wie würdelos dieser Vorwurf ist. Denn als Altkanzler hat Schröder immer auch eine gewisse Haltung zu zeigen, die über die eigenen Positionen hinausgehen muss. Dazu gehört es, Unverzeihliches als solches zu benennen und aufrecht dagegen vorzugehen. Schröder tut das nicht. Stattdessen inszeniert er sich als verkannter Vermittler zwischen einem missverstandenen Russland und einem missverstehenden Europa. Er verzerrt das Weltgeschehen und funkt die russische Propaganda nicht nur einmal, sondern als Dauerwerbesendung nach Deutschland. Schröder? Ein bitteres Beispiel für jemanden, der sich politisch eindeutig überlebt hat."

"Die Glocke": "Warum verhandelt Putin denn dann nicht? Warum lässt er nicht einfach mehr Gas durch bestehende Leitungen pumpen und die längst reparierte Turbine wieder einbauen? Erwartet Schröder ernsthaft, dass die Regierung in Kiew Gebietsabtretungen zustimmt? Was meint er zu Putins wirren Sprüchen Marke 'Befreiung der Ukrainer von einem faschistischen Regime', mit denen dieser die Invasion begründet? Auf diese Fragen hätte man vom Altkanzler gerne Antworten. Stattdessen lehnt er es ab, sich vom Kreml-Herrscher zu distanzieren – während dies für Menschen mit demokratischer, friedlicher Gesinnung selbstverständlich ist. Die Aussage, die Annexion der Krim sei unabänderlich, ist geradezu hanebüchen. Das hieße, Putin und anderen Aggressoren einen Freibrief auszustellen, nach kriegerischen Eroberungen Gleiches zu beanspruchen. Motto: Wenn wir uns erst einige Jahre lang irgendwo festgesetzt haben, wird der Rest der Welt es schon als unser Territorium anerkennen."
"Märkische Oderzeitung": "Doch so schäbig Schröders Verhalten auf viele Zeitgenossen wirkt, zur Wahrheit gehört, dass er offensichtlich als Einziger noch einen Zugang zum russischen Präsidenten hat. Diese Männerfreundschaft scheint stabil genug zu sein, um in der gegenwärtigen Krise zu bestehen. Anstatt von Schröder zu fordern, sich von Putin zu distanzieren, sollten sich die Gegner Russlands eher überlegen, wie sie seine Kontakte nach Moskau nutzen können. Verhandler kann man sich nicht immer aussuchen: Auch die Getreideexporte aus der Ukraine wurden von einer Regierung vermittelt, mit der Deutschland offenbar ein Problem hat, wie der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in der Türkei gezeigt hat."
"Berliner Morgenpost": "In Deutschland ist Gerhard Schröder zur Unperson geworden. Im Ausland wird Schröder kaum beachtet, ein 'Has-been'. Es ist nicht mehr relevant, ob er Verhandlungen für geboten und sich für den idealen Mittler hält, ob er sich Wladimir Putin warmhalten will oder nicht, ob er für oder gegen die Pipeline Nord Stream 2 ist. Was den Lauf der Zeit überdauert hat, ist bloß seine Geltungssucht; aber bitte: Wer aus der Politik wollte den ersten Stein werfen? Als Friedensstifter ist Schröder nur zweite Wahl. Zum Vermittler fehlen ihm zwei Tugenden: Unparteilichkeit und Diskretion. Dass er ein Interview für die Mitteilung geben muss, der Kremlchef wolle verhandeln, zeigt: Er ist eine Stimme aus dem Off. Wenn Schröder anruft, nehmen offenbar viele nicht ab. Will Putin reden? Die Einschätzung lässt aufhorchen, zumal nach der Einigung über den Getreideexport. Man müsste Putin testen. Es sollte klar sein, dass der Krieg nicht militärisch, sondern nur durch Verhandlungen zu Ende gehen wird und die Europäer nichts unversucht lassen sollten, um vor ihrer Haustür ein abgedrehtes Regime zu verhindern. Russland einzubinden bleibt eine außenpolitische Priorität – auch wenn sie Schröder formuliert."